Alles Land - Roman
Weile schloss auch er die Augen, und dennoch wollte das Gefühl nicht verschwinden. Dieser kleine Schwindel, als würde er sich ganz allmählich bewegen, ohne eigenes Zutun. Sehr langsam, fast unmerklich, während er hier neben ihr im Gras lag, das kalt war. Er spürte, wie die Feuchtigkeit des Bodens durch sein Hemd drang. Jemand zog an seinen Haaren, aber das war wohl nur der Wind. Wegener meinte eine Bewegung der Erde zu bemerken, als würde sie unter ihm davonwandern, ohne dass es sich aufhalten ließ. Trieb er von Else fort? Endlich nahm er sich ein Herz und fasste mit geschlossenen Augen zu ihr hinüber, um sich an ihr festzuhalten, damit dieses entsetzliche Gefühl endlich verschwand. Später fragte er sich, woran sie gemerkt hatte, dass es nicht einfach der Versuch einer Annäherung war, den er unternahm. Hatte er sich zu fest an ihr Handgelenk geklammert ? Er lag einfach da und hielt sich an ihr fest, und sie stützte sich auf und fragte, was mit ihm sei. Er schüttelte nur stumm den Kopf.
Die Schafe hatten sich unterdessen über dem Marschland verteilt, jedes stand nun ganz für sich. Auf dem Heimweg war es Else, die nach seiner Hand griff, jetzt ohne Zweifel
im Versuch einer Annäherung. Für einen Moment gingen sie schweigend, dann begann er von seinen Messergebnissen zu berichten, von seiner Arbeit an den Reisenotizen, er hatte die Aufzeichnungen zu dem rätselhaften Brummen wiedergelesen, das in Pustervig zu hören gewesen war, und dazu bereits einige Gedanken formuliert, die er unter dem Titel Der Ton der Dove-Bai in den Mitteilungen über Grönland zu veröffentlichen gedenke. Else hörte ihm zu. Seine Hand ließ sie nicht mehr los.
Else schickte ihm eine Postkarte nach Marburg. Zum ersten Mal schrieb sie selbst. Die Ansicht zeigte die Zeichnung einer Sommerfrische, den Übergang vom Strand zum Wasser, darüber hoch aufgetürmte Cumuli. Zum ersten Mal besaß er eine Probe von Elses Handschrift. Im ersten Heidelberger Semester hatte er sich auf seinen Streifzügen durch die Bibliothek auch eine Einführung in die Graphologie besorgt, daran versuchte er sich zu erinnern, während er die Eigenheiten ihrer Schrift studierte. Die mädchenhaften Schleifen der Initialen, die kleinen Schwünge im Abstrich, die ausgeprägten Unterlängen, die unter anderem für Tiefe standen, aber wohl auch, wenn er es recht zusammenbrachte, für verborgene Neigungen.
In ihrem Schreiben berichtete Else, sie habe am nächsten Tag den gleichen Ausflug erneut gemacht, mit der traurigen Empfindung, dieses Mal allein zu sein. Vielleicht werde ihre Augentrübung auch besser. Sie habe noch einmal über ihr Gespräch auf dem Heimweg nachgedacht, bei dem sie nicht dazu gekommen sei, ihm die
Frage zu stellen, die ihr auf der Zunge lag: Was er denn eigentlich suche?
Wegener nahm sich vor, mit der Antwort einige Tage zu warten. Einerseits ging es ihm darum, jeden Eindruck von Aufdringlichkeit zu vermeiden, andererseits wollte er sich Mühe geben mit der Wahl seiner Worte. Immerhin würde es kein gewöhnlicher Brief werden. Und wenn er einfach antwortete: »Eine Begleiterin wie Sie«?
Am Ende verwarf er alle Briefentwürfe und schrieb stattdessen Köppen die einfache Frage, wie in Hamburg der Brauch betreffend der Aussteuer sei.
Köppens Antwort war überschwänglich. Er habe die Idee in seinem Herzen bewegt und viel Freude daran gefunden. Wegener antwortete wiederum postwendend in einem langen Brief, der kaum erkennen ließ, ob er plante, die Tochter heimzuführen oder ihren Vater. »Es ist mir nicht möglich, genau zu sagen, wie ich mich auf die gemeinsame Arbeit freue. Ich habe immer Furcht vor dem Pathos.« Er stimmte Köppen darin zu, dass Else bei den Eltern wohnen bleiben solle, bis er eine Lebensstellung fand.
Auf der Treppe lief er seiner Wirtin in die Arme und setzte sie gleich von seinem neuen Stand in Kenntnis. Sie freute sich für ihn und ebenso für sich selbst, da Wegener ihr vorerst noch erhalten blieb. Er wusste, was man über die hiesigen Vermieter sagte: Die Marburger lebten von einem Studenten unterm Dach und zwei Ziegen im Keller.
Von der Post fuhr er gleich weiter ins Institut, er fühlte sich seltsam stimuliert, angestachelt zu neuen Taten. In der Bibliothek zog er fast wahllos Bände aus den Regalen. Wie ein Ertrinkender, fiel ihm ein, obwohl das Bild
dem Nachdenken nicht standhielt. Hatte er einfach noch etwas zu erledigen, bevor Else zu ihm stieß? Er musste dieser Vorstellungen Herr werden, die
Weitere Kostenlose Bücher