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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Braunschweig. Wegener riss das Paket mit seinem Handexemplar auf und hielt endlich das Buch in der Hand. Wie leicht es war. Was für ein schönes rotes Leinen sie gewählt hatten. Er wagte kaum, die Seiten aufzuschlagen, aus Angst, auf einen Fehler zu stoßen.
    Er tat es dennoch. »Die Erde kann zu einer bestimmten Zeit durchaus nur ein Aussehen gehabt haben. Direkte Auskunft hierüber gibt sie nicht. Wir stehen ihr gegenüber wie der Richter gegenüber einem Angeklagten, der jede Auskunft verweigert.« Hatte er das selbst geschrieben?
    Wegener stellte den Band auf den Kaminsims, damit er sein Werk immer sah und um es vor Hildes verderblichem Zugriff zu schützen. Die beiden Kerzen, die dort gestanden hatten, rückte er ein wenig zur Seite, damit sie dem Ereignis einen Rahmen gaben. Seit ihrem Einzug hatten sie noch niemals gebrannt, jetzt entzündete er sie, wann immer er sich im Raum aufhielt.
    Jedermann konnte nun die Wahrheit lesen. Kurz vor Drucklegung war ihm noch ein letztes, tödliches Argument gegen die Theorie der Zwischenkontinente eingefallen, und der fleißige Setzer war so gut gewesen, den Absatz
noch mit aufzunehmen. Niemand hatte je bedacht, welch gewaltige Mengen Wasser solche Landbrücken verdrängen würden. Vor ihrem Versinken hätte der Spiegel der Weltmeere daher weit höher liegen müssen als heute, das Wasser hätte alles Land überflutet. Diese ohnehin absurde Theorie führte also gerade nicht zu dem gewünschten Ziel, das doch in trockenen Landverbindungen zwischen trockenen Kontinenten bestand.
    Wegener konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie man sich solch offensichtlichen Wahrheiten entziehen konnte. In den nächsten Tagen las er das rote Buch mehrmals zur Gänze durch und nahm in erheblichem Umfang Unterstreichungen vor.
     
    Das allgemeine Interesse an seiner Veröffentlichung jedoch blieb gering.

    »Die Leute«, schrieb er Köppen, »die so recht darauf pochen, auf dem Boden der Tatsachen zu stehen und mit Hypothesen durchaus nichts zu tun haben wollen, sitzen doch allemal selbst mit einer falschen Hypothese darin.« Wie kalt ihn noch immer die Wut überkam, wenn er die wenigen Besprechungen seines Bandes las. »Solche Menschen«, fuhr er fort, »sind für eine Neuorientierung der Ideen nicht zu haben. Hätten sie die Verschiebungstheorie schon auf der Schule gelernt, so würden sie diese Ansicht mit demselben Unverstand in allen, auch den unrichtigen Einzelheiten ihr ganzes Leben hindurch vertreten, wie jetzt das Absinken der Kontinente.«

    In seiner Antwort versuchte Köppen ihn zu beschwichtigen, was Wegener seinem Schwiegervater übel nehmen wollte, bis er las, Köppen habe zu seiner Freude erfahren, dass die transatlantische Längenbestimmung Borkum – Horta – New York nun unmittelbar bevorstehe. Gab es also doch jemanden, der seine Theorie zum Anlass für eigene Forschungen nahm! Auch wenn die grönländische Scholle weitaus beweglicher war, würden die viel genaueren Messungen, zu denen man mittlerweile fähig war, zweifellos auch hier Verschiebungen belegen, die ausreichten, seinen Gegnern den Boden unter den Füßen fortzuziehen.
    Und man solle sich, schrieb er in seiner Antwort an Köppen, nichts vormachen. Auch wenn es geologisch kein Unterschied sei, liege dem modernen Menschen die Strecke Borkum – Horta – New York erheblich näher als die Drift irgendeiner eisgepanzerten Insel im Polarmeer, so groß sie auch sei.
    Erregt brachte er den Brief zur Post, eben schickte sich hinter einem Schleier aus Eiswolken die Sonne zum Untergang an und zeigte eine so herrlich leuchtende Nebensonne, dass man niemandem hätte verdenken können, sie für die echte zu nehmen. Großzügigkeit fiel leicht, wenn man nur darauf warten musste, dass eine Wolke sich verzog, um recht zu behalten. Wenn es doch überall so einfach wäre. Für einen Moment glaubte er, nicht abwarten zu können, dass die transatlantische Messung endlich ihren Anfang nahm.
    Leider verhinderte, wie Wegener bald darauf erfuhr, der Krieg das Unterfangen.

    Hilde nahm immer weiter zu. Manchmal nannte Wegener sie einen Mops, was Else kränkte. Sie war kaum ein Dreivierteljahr alt, als sie sich an jedem einigermaßen festen Gegenstand in die Höhe zog und minutenlang bewegungslos stehen blieb. Ernst und dick schaute sie in die Ferne.
     
    Wegener erfuhr von einer weiteren geplanten Messung: Greenwich – Cambridge. Genau genommen ein Witz – so altehrwürdig beide Städte auch waren, die zu erwartende

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