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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Grönland und bis hinüber auf die amerikanische Seite, wo sie aber nur in Labrador, Neufundland und dem Osten der Union zu finden war. Wie konnte man seine Augen vor der Gartenschnecke verschließen? Vor ihrer tiergeographischen Zwangsläufigkeit? Gab es einen gesunden, klar denkenden Menschen, dem es wirklich gelang, sich den Weg der Gartenschnecke über ein solches Landbrückenphantasma vorzustellen?
    Und dann Spitzbergen. Lag heute unter Eis, tatsächlich aber fanden sich dort Spuren von Efeu, Schlehe, Hasel,
Weißdorn und Schneeball, sogar von solch wärmeliebenden Gewächsen wie Wasserlilie, Walnuss und Sumpfzypresse. Es hatte einmal Platanen dort gegeben, Kastanien, Ginkgo und Magnolie, ja Wein! Einst musste es möglich gewesen sein, in Spitzbergen zu leben wie in Frankreich.
    Er notierte jedes seiner Argumente und teilte sie in Gruppen ein. Geologische Argumente, geophysikalische Argumente. Paläontologische, biologische, paläoklimatische Argumente. Die Listen füllten längst eine ganze Mappe.
     
    Wenn er abends nach Hause kam, hatte Hilde Blähungen und schrie. Es mochte der Weißkohl sein. Wegener erwog die Anschaffung eines Hundes, um nach dem Nachtmahl noch ein wenig auf die Straße zu müssen, aber er hatte mit Hunden bislang kein Glück gehabt. Feldmann und Gloë waren im Eis geblieben. Er besprach den Fall mit Else, die die Goldfische ihres Elternhauses vermisste. Am Ende wurde es eine Katze, womit niemandem geholfen war. Hilde betrachtete das Tier mit offenem Entsetzen.
     
    In der Bibliothek des Instituts stieß Wegener auf die Expeditionsberichte eines Edward Sabine, der hundert Jahre zuvor mit seinem Pendel alle Enden der Welt bereist hatte. Wo immer er an Land ging, maß er ab, bei welcher Fadenlänge das Pendel eine Sekunde für die Schwingung brauchte, und bestimmte so die lokale Schwere. Wegener beneidete den Mann um das kleine Gepäck. Wie schön die Aufgabe war, die er sich gestellt hatte. Wie übersichtlich. Es schauderte ihn, als er im Kopf den mittleren Fehler überschlug.
    Auf einmal fiel ihm ein, wo er den Namen des Forschers bereits gehört hatte. Hatte auf seiner ersten Expedition die
Danmark nicht an einer Sabine-Insel geankert? Aufgeregt blätterte Wegener durch die Seiten und fluchte leise, als sie vom Schweiß seiner Finger aneinanderzukleben begannen. Endlich erreichte er die Stelle: Dieser Sabine war tatsächlich die grönländische Ostküste hinaufgefahren, zu jeder Bucht waren die entsetzlich ungenauen Ergebnisse seines Pendelns vermerkt. Dann hatte er die Insel erreicht, die so eindrucksvoll der Küste vorgelagert war, und ihr sogar einen Namen gegeben: Inner Pendulum Island. Dort hatte er verschiedenste Experimente angestellt. Wegener überflog die Kolonnen der Ziffern, was hatte der alte Geck nicht alles untersucht. Am Ende der Seite endlich fand Wegener, wonach er suchte: eine Messung der geographischen Länge. Für einen Moment hörte er auf zu atmen.
    Natürlich, die Positionsbestimmung mochte fehlerbehaftet sein. Aber sie war alt. Alt wie eine Sage, so kam es Wegener vor, alt wie Kontinente. Wer die Bewegung der Erdschollen bestimmen wollte, musste Zeiträume vergleichen, in denen die Festländer Gelegenheit hatten, sich voneinander zu entfernen. Wann war Sabine auf der Insel gewesen? 1823, mehr als achtzig Jahre, bevor Wegener selbst ihre Position bestimmt hatte. Eine Ewigkeit.
    Eine Stunde später hatte er herausgefunden, dass auch die Germania-Expedition dort gewesen war, sie hatten sogar den ganzen Winter 1869/70 auf der Insel zugebracht. Selbstverständlich hatte man auch eine Längenmessung unternommen. Koldewey selbst war es gewesen, der dem Eiland seinen gültigen Namen gab, Sabine-Insel, zu Ehren des Forschers.
    Bis zum Abend hatte Wegener die Unterschiede der drei Messverfahren in Erfahrung gebracht, Fehler abgeschätzt,
gewichtet und aufeinander bezogen, nun fiel das Licht der untergehenden Sonne auf zwei schmale Zahlen am Fuß der letzten Rechnung: 11 – 21. Sie sahen aus wie Lebensdaten. Wegener malte sich aus, man würde das Zahlenpaar dereinst in seinen Grabstein meißeln, in Erinnerung an das Ergebnis seiner Berechnung: Jahr für Jahr driftete Grönland, die größte Insel der Erde, elf bis einundzwanzig Meter nach Westen.
    In vollkommener Übereinstimmung mit seiner Theorie.

Das detonierende Meteor vom 3. April 1916 3½ Uhr nachmittags in Kurhessen
    Die erste Auflage von Die Entstehung der Kontinente und Ozeane erschien 1915 bei Vieweg in

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