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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Ereignis immer farbenfroher. Abwechselnd rot, blau und grün habe die Feuerkugel geleuchtet, woraus Wegener, der sich am Bahnhof von jeder ausliegenden Zeitung ein Exemplar hatte geben lassen, sogleich auf den charakteristischen Farbwechsel von Blaugrün zu Rot schloss, der sich beim Passieren der Grenze von Wasserstoff- und Stickstoffsphäre ergab. Er las die Blätter auf den Knien, wie üblich mit Stift und Lineal, um Wesentliches sogleich unterstreichen zu können; in dem schwankenden Bahnwaggon half ihm sein Werkzeug dabei, die Zeile zu halten. Bald waren die Blätter mit Anmerkungen übersät. Im weiteren Fortgang, meldeten die Berichte, habe das Leuchten eine gelbliche Färbung angenommen (»wie ein Citronenfalter«) oder eine weiß glühende wie die Sonne und sogar die Farbe von Acetylgaslicht (»und gleich darauf in allen Regenbogenfarben spielend«). Ein Beobachter wusste sogar zu berichten, dass während des Fallens eine himmlische Melodie erklungen sei.
    Und er war nicht zur Stelle gewesen! Wegener war eine Woche vor dem Ereignis zu einem Gaskurs abberufen worden. Als ihn die Nachricht erreichte, war er zum Anleiter gestürzt, hatte ihm in knappen Worten das Phänomen
eines Meteoritenfalls erklärt und ihn endlich davon überzeugen können, es sei seine patriotische Pflicht, den Himmelskörper fürs Reich zu bergen. Ohne im Einzelnen zu verstehen, wovon die Rede war, hatte man zwei Wochen Sonderurlaub gewährt, und Wegener war sogleich aufgebrochen. Kaum nach Marburg zurückgekehrt, machte er sich an die Arbeit.
    Zunächst sandte er an die größeren Blätter des Umkreises – Frankfurter Zeitung, Kölnische Zeitung, Der Tag, Magdeburger Zeitung – eine allgemeine Aufforderung an die Leser, ihm ihre Beobachtungen zu senden, welche umstands- und kostenlos abgedruckt wurde.
    Die Menge der Zuschriften war enorm. Sie kamen aus sämtlichen Ecken des Verbreitungsgebietes, selbst vom Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald erreichte ihn ein ausführliches Protokoll der Lichterscheinung. Immerhin deutete sich an, dass Rhein und Main eine südliche und westliche Sichtbarkeitsgrenze gaben. Wegener trug jeden Hinweis in seine Karte ein, die Position des Beobachters und seine Blickrichtung. Bald fügten sich die Zeichen zu einem klaren Kreis, nur Göttingen schien unter einer Wolke gelegen zu haben. Mit jedem Eintrag wurde das Muster deutlicher, wie die Strahlen eines Sterns gingen die Striche von einem Gebiet am Ufer der Schwalm aus. Als am Ende der Schriftzug Treysa kaum mehr lesbar war, beschloss Wegener, dort sein Glück zu suchen.
    Else begleitete ihn, mittlerweile hatte sie den Marktfrauen genügend Schwälmer Dialekt abgelauscht, um als Dolmetsch dienen zu können. Sie zogen von Dorf zu Dorf, von Tür zu Tür und kamen sich bald vor wie die Brüder Grimm beim Sammeln ihrer Kinder- und Hausmärchen.

    Ein Bäckermeister gab zu Protokoll, die Feuerkugel habe ausgesehen wie ein Biskuit, das sich in der Luft drehte, vor Schreck sei er in den Straßengraben gesprungen. Ein altes Männchen flüsterte Else mit kratziger Stimme ins Ohr, da sei eine feurige Wolke gewesen, in der das Antlitz des Kaisers erschien. Er sei bereit, den Vorfall zu beschwören. Wegener musste zweimal nachfragen, bevor er glauben konnte, was seine Frau ihm übersetzte.
    Nach einigen solchen Erfahrungen gewöhnten sie sich an, in jedem Dorf als Erstes zum Lehrer zu gehen, um zu erfahren, wer verlässlich von dem Ereignis berichten könne. Am ergiebigsten war es, persönlich in den Schulklassen vorzusprechen und die Schüler von ihren Beobachtungen berichten zu lassen.
    Die Kinder konnten sich kaum zügeln, alle wollten, dass der Herr Professor sie an die Reihe nahm, und Wegener musste mitschreiben wie wild, um all das wunderbare Material zu versammeln, erregt von der Aussicht auf die Implikationen, die dieses nahezu deckungsgleiche Material versprach. Endlich einmal gab es nicht nur Widersprüche. Er überschlug bereits, was sich aus den Beschreibungen der Rauchwolken über das Material des Meteors ableiten ließ.
    Es brauchte einige solcher Sitzungen in den moderig riechenden Klassenzimmern, bis Wegener auffiel, dass die Einförmigkeit der Schilderungen ihn misstrauisch machen sollte. Erst allmählich gestand er sich ein, dass die Schüler auch in den Absonderlichkeiten übereinstimmten. Sagte der Vorlauteste einer Klasse, das Spektakel habe ausgesehen wie eine leuchtende Birne, konnte Wegener sich bald sicher sein, dass die Vergleiche der

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