Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
Vom Netzwerk:
Mitschüler den Obstgarten nicht mehr verlassen würden.

    Es war die alte Seuche: der Mensch in der Gruppe. Wegener hatte es immer gewusst, und hier bestätigte es sich nur ein weiteres Mal. Alles Lautere wurde verdünnt, nur das Übel ergänzte sich, bis am Ende nichts als rohes, gemeines Mittelmaß verblieb. Der Mensch war schon als Einzelwesen eine höchst zweifelhafte Kreatur, im Rudel aber verlor er jede Würde. Mit Schauder dachte Wegener an die Zeit im Feld zurück. Was hätte ihn denn sonst dazu gebracht, die Besonnenheit des Wissenschaftlers abzulegen, wenn nicht der schädliche Einfluss der Meute?
    Von nun an isolierte er seine Quellen. Er trennte Eheleute und entriss den Kindern die Mutter. Es half nichts, anders war der Wahrheit nicht beizukommen. Die Leute waren nur zu gebrauchen, wenn sie allein waren. Mit jedem, der glaubhaft machen konnte, das Ereignis mit eigenen Augen gesehen zu haben, ging Wegener einzeln aufs Feld, ließ sich zu der Stelle führen, wo er damals gearbeitet oder seine Vesper gehalten hatte, und trug schließlich ein, in welcher Richtung und Höhe das Schauspiel zu sehen gewesen war.

    Ein brennender Kohleklumpen sei es gewesen. Ein goldener Pfeil, das leuchtende Ei einer Gans.
    Ein Strahlen sei davon ausgegangen wie von einer Fackel, die in allen Farben brennt. Es habe ausgesehen wie die gelben Leuchtkugeln aus den Schützengräben.
    Eine weiße, von der Sonne beschienene Taube.

    Am wenigsten Mühe bereitete die Feststellung der Zeit.
    Oberpostschaffner Rühl meldete, zum Zeitpunkt des ersten Aufleuchtens habe sich der Personenzug Cassel – Marburg eben zwischen Neustadt und Allendorf befunden. Das wisse er, weil er selber herinnen gesessen habe. Es müsse daher 3 Uhr 25 Minuten gewesen sein. Sollte der Zug eine geringe Verspätung gehabt haben, wie es auf dieser Strecke eingestandenermaßen regelmäßig geschehe, sei demnach auch das Meteor entsprechend verspätet gewesen.
    Die Genauigkeit der Ortsangaben dagegen war gering. Es fanden sich darin so viele offenkundige Täuschungen und Erinnerungsfehler, dass Wegener anfangs von einer präziseren Bahnbestimmung ganz absehen wollte. Dann aber stellte er beim Studium früherer Fälle fest, dass die Laienbeobachtung eine Anzahl typisch wiederkehrender Irrtümer aufwies, die sich systematisch herausrechnen ließen.
    Wegener hatte geglaubt, sein Wissen über die Bewegung himmlischer Körper vertiefen zu können, tatsächlich aber entwickelte er sich in diesen Wochen viel eher zu einem Fachmann für jede Spielform der Autosuggestion. Wie fest die Menschen an ihre Fehler glaubten, wie unbelastet von jedem Zweifel.
    Cand. theol. Seiwert schrieb aus Paderborn, also reichlich hundert Kilometer abseits, man tue besser daran, in der Nähe seines Hauses zu suchen, der Gegenstand sei etwa in zweihundert Metern Entfernung von seinem Beobachtungspunkt niedergegangen. Wegener schrieb zurück, das sei kaum möglich, sämtliche vorliegende Beobachtungen sprächen für ein weit südlicheres Fallgebiet. Seiwert schrieb in recht forschem Ton zurück, er müsse entschuldigen, das
könne nicht sein. Der Gegenstand sei zwischen ihm und einem nahen Berge niedergegangen, er fügte Skizzen bei und zeigte sich am Ende gar bereit, das Angegebene eidlich zu bestätigen.
    Es brauchte einige wache Nächte auf dem Lager und ebenso viele Tage in den Büchern, bis Wegener auch darauf eine Antwort fand: Das Auge folgte dem bewegten Licht auch nach dessen Erlöschen weiter, und das Nachleuchten auf der Netzhaut hatte dem gewiss im guten Glauben stehenden Cand. theol. wohl vorgegaukelt, die Bewegung setze sich noch vor dem Berghang bis zum Boden fort.
     
    Auch die Höhenschätzungen erwiesen sich als falsch. Jeder Beobachter neigte dazu, entweder zu behaupten, das Licht sei direkt über ihm oder dicht am Horizont zu sehen gewesen.
    Wegener gewichtete daher jene Angaben stärker, bei denen ein Kirchturm, eine Fahnenstange, ein Telegraphendraht zum Vergleich gedient hatten. Abends vor dem Einschlafen dachte er über eine Eingabe nach, das Land mit Telegraphendrähten zu überziehen, um auf diese Weise sicherzustellen, dass stets ein Bezugspunkt in der Nähe war.
    Die Wut, die er allmählich auf seine Zeugen entwickelte. Nachdem Else des Kindes wegen nicht mehr an seiner Seite war, musste Wegener allein zusehen, wie er mit diesen haarsträubenden Berichten zurechtkam. Das Meteor sei kindskopfgroß gewesen. Ja hatten sie denn noch niemals festgestellt, dass ein Kindskopf

Weitere Kostenlose Bücher