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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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Verschiebung war unerheblich im Vergleich zu anderen Ortspaarungen. Doch Observatorium und Universität waren neuerdings durch ein Ozeankabel miteinander verbunden, was die Messungen ausreichend präzis zu machen versprach. Es dauerte eine ganze Weile, bis Wegener erfuhr, dass das Kabel bei Kriegsbeginn zerschnitten worden war. Auch diese Messung musste entfallen.
    Wegener vertrieb sich die Zeit mit kleineren Veröffentlichungen: Zur Frage atmosphärischer Gezeiten, Über den Farbenwechsel der Meteore. Er erinnerte sich an seine heimliche Leidenschaft für Turbulenzen. Sehnsüchtig wünschte er, selbst einmal Zeuge eines Wirbelsturms zu werden, und stand manchen Abend am Fuß der Lahnberge, den Blick aufmerksam auf das Laub der Bäume gerichtet, Stunde um Stunde, wie ein Angler ohne Leine.
    Manchmal glaubte er, einen Windhauch auszumachen, der weniger horizontal als vertikal gerichtet war. Im Kopf entwarf er die Möglichkeit, dass eine Windhose unsichtbar wäre, wenn ihr Inneres nicht kondensierte. An ihrem oberen Ende könnte eine Wolke stehen, aus der ein Zapfen
herabhinge, den Fuß würde nichts als ein kleiner, rascher Wirbel bilden. Noch unschlüssig, wie wahrscheinlich ein solches Phänomen tatsächlich sei, beschloss Wegener, ihm zur Sicherheit bereits einen Namen zu geben, und so taufte er das Ereignis einer unsichtbaren Windhose eine »blinde Trombe«.
    Nachdem er die Wahrscheinlichkeit des Zusammentreffens von einem solchen Wetterereignis und seiner eigenen Person überschlagen hatte, beschloss er ernüchtert, stattdessen eine Sammlung von Augenzeugenberichten herauszugeben.
    Bei Lucretius stieß er auf die Schilderung eines Zyklons auf offener See, deren Sachlichkeit ihn überraschte. Wäre er selber in der Lage, im Angesicht der Naturgewalt so kühl zu bleiben?
    Der Band erschien im darauffolgenden Jahr. Als Titelvignette diente eine Zeichnung von 1827: die Gewässer vor Sizilien, über die ein Dutzend Wasserhosen aller Größen und Formen zog. Angefertigt hatte das Bild ein Herr Mazzara vom Bord seines Schiffes, in dem Moment, als eben der Kapitän das Feuer auf die bedrohlichste der Wassersäulen eröffnete.
    Angeregt von Lucretius’ Nüchternheit, hatte Wegener seinem Band den sachlichen Titel Wind- und Wasserhosen in Europa gegeben. Dabei wusste er ja, dass seine Sammlung nicht vollständig sein konnte. In irgendeiner Zeitungsausgabe, Reisedarstellung oder Stadtchronik gab es sicherlich noch Beschreibungen weiterer Wettersäulen, die ihm entgangen waren, auch in irgendwelchen Lebenserinnerungen, womöglich sogar in einer Predigt. Aber wer war er, das alles vollständig zu sichten, noch dazu in
Kriegszeiten? Vollständigkeit war, um mit seinem Vater zu sprechen, nur bei Gott.
    Die Sammlung war auch so eindrucksvoll genug.

    Es hat auch etliche Jüden samt ihren Weibern und Kindern aus ihren Schlafgemächern samt den Betten über die Dächer auf die Gassen geworfen. Dergleichen haben sie daselbst bei ihnen eine Drückerei zugerichtet, darinnen sie das Alte Testament in hebräischer Zunge zu drucken vorgenommen. Diese Drückerei hat das Wetter auch genommen, die Exemplare über alle Häuser in die Gassen der Stadt, vor die Stadt, auch in alle weiten Felder geführt, eins in das andere gemengt, zerrissen, an die Zäune und Bäume gehangen, dass man also des Morgens, wie es Tag worden, in und vor der Stadt, auch auf dem Felde hin, die selben gedruckten Papiere so viel und ganz dicke gelegen, und funden in Massen, wie es geschneiet hätte.

    Als tatsächlich etwas geschah, war es kein Wirbelsturm, und Wegener war ohnehin nicht zur Stelle. Es waren einige Bauern im Kurhessischen, die am Nachmittag des 3. April 1916 als Erste die Köpfe hoben, aufgeschreckt von einem Donnerschlag, von Rauchwolken, von einem Strahlen. Sie alle gaben später an, zunächst an Artillerie gedacht zu haben. Eben erst hatte der Beschuss von Verdun begonnen, an windstillen Tagen waren die Kanonen bis auf ihre Felder zu hören. Dann sahen sie auf: Durch den wolkenlosen

    Frühlingshimmel fiel gemächlich eine Feuerkugel und hinterließ eine gleißende Spur.
    Der Eindruck auf die Betrachter dieses Schauspiels war enorm. In den nächsten Tagen füllten sich die Zeitungen mit Augenzeugenberichten, Ohrenzeugenberichten, Verlautbarungen nach dem Hörensagen. Selbst im hundert Kilometer entfernten Sachsen-Meiningen wollte ein Kunstmaler die Schallerscheinungen gehört haben, und wirklich wurde mit steigender Entfernung der Berichte das

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