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Alles Land - Roman

Alles Land - Roman

Titel: Alles Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Lendle
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aus der Nähe größer wirkte als von ferne? Was er brauchte, waren Vergleiche, Relationen, am besten Winkelangaben, Azimute, Beschleunigungen. Es blieb ein Jammer, dass er nicht selbst vor Ort gewesen war.

    Und jedes Nachfragen rief nur immer absonderlichere Antworten hervor. Wo anfangs noch ein einzelnes Licht gefallen war, wurde nach seiner interessierten Erkundigung daraus bald ein ganzer Meteoritenschauer. Sie wollten ihn, den Gelehrten, nicht enttäuschen. Also fügte er sich stumm ins Protokoll und zeichnete nur an den Rand der Seite grimassierende Karikaturen all der Kindsköpfe, denen er gegenübersaß.
     
    Seine Recherche wurde nicht erleichtert durch die vorgeblichen Funde. Selbst aus der Nähe von Wiesbaden kam die Nachricht, ein Maurermeister habe einen schwefelrüchigen Fremdkörper entdeckt. Anfangs ließ Wegener sich die Stellen zeigen, aber bald hatte er die Nase voll von all den Kieseln und Klumpen. Wie böse die Leute wurden, wenn man versuchte, ihnen die Sache auszureden. Wegener erinnerte sich an Victor Hugos Satz, nichts sei mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen sei, und korrigierte: Nichts war mächtiger als eine fixe Idee. Was er fand: Quarze, Knollen, einmal auch Hüttensau, Schlacken aus der Zeit, als man das Eisenerz der Gegend noch vor Ort verhüttet hatte.
    Was ihn überraschte: wie selten der Schwefel zur Sprache kam. Aus der Literatur wusste er, dass in den alten Zeiten nicht nur jedes Meteor nach Pech und Schwefel gerochen hatte, sondern auch Nordlichter, Kometen und Wirbelstürme. Nachdem er einen ganzen Nachmittag mit Vermutungen über mögliche Gründe zugebracht hatte, entschied Wegener, dass sich darin nur die schwindende Bedeutung des Teufels im Leben der Menschen zeigen könne.

    Es sei ein weißer Streifen Qualm zurückgeblieben, von der Stärke eines Wollfadens. Der Rauch habe ausgesehen wie ein gespannter Telegraphendraht, an ebenjener Stelle, wo gerade noch der Schweif gestanden habe. Er habe die Form einer Wendeltreppe gehabt. Leicht wellig. Gekräuselt, gezackt.
    Es habe ausgesehen wie ein Riss im Himmelsgewölbe.
    Dann sei er allmählich blasser geworden und endlich verschwunden »wie ein Nebel« (Oberjäger Karlbaum), »wie eine Schrapnellwolke« (Schütze Wippler), »wie Zuckerwatte« (Unterprimaner Bülbring).

    Natürlich, ein Zischen. Selbst aus weit entfernten Orten kamen Schilderungen davon. Wegener ließ sich nicht davon täuschen. Man hörte ein Zischen, weil man ein Zischen erwartete. Die Täuschung war allzu leicht zu entlarven, weil in den Beschreibungen das Zischen stets zusammen mit der Lichterscheinung auftrat, während ein tatsächliches Zischen doch mit der viel langsameren Schallgeschwindigkeit dem Licht hätte hinterhereilen müssen.
    Die Berichte aber, die davon sprachen, dass eine ganze Weile nach dem Leuchten auf einmal ein Donner gewesen sei, gewichtete Wegener gleich doppelt. Frau Gymnasiallehrer Jehn aus Wehrda gewann erheblich an Glaubwürdigkeit durch die Schilderung, wie erst eine Weile nach dem Lichtblitz (»so lange, als man benötigt, einige Stück Würfelzucker zu greifen«) ihre Kaffeetasse zu klirren begonnen habe.
    Konsistorialrat Weiß auf die Frage, ob es ein Geräusch gegeben habe: Ja, es habe geklungen wie ein »Oh«. Erst
habe er gedacht, dass sei seine Hedwig gewesen, aber dann habe sich herausgestellt, dass sie dasselbe von ihm geglaubt habe. Sie hätten sich im Bett, in dem sie wie jeden Tag zum Mittagsschlaf lagen, aufgesetzt. Es habe einen mehrfachen Knall gegeben, gefolgt von einem gurgelnden Geräusch, darauf Stille. Hedwig habe seine Hand genommen. Weiter sei nichts Mitteilenswertes geschehen. Sie hätten die Gardinen geöffnet, der Nachmittag sei womöglich eine Spur heller gewesen als sonst.
     
    Am Ende ließ Wegener es gut sein mit der Feldforschung. Eine geschlagene Woche lang verzog er sich in Elses Werkstatt, die er nicht einmal zu den Mahlzeiten verließ. Er rechnete, verglich, gewichtete. Auch die Beobachtungen, die er wegen offensichtlicher Untauglichkeit verwarf, musste Else ins Reine schreiben, obschon es ihr der zunehmenden Schwersichtigkeit wegen immer anstrengender wurde.
    Er überschlug Geschwindigkeiten, Atmosphärenschichtungen, Flugbahnen und ihre Neigung, er war selber erleichtert, dass dieses Meteor einem so berufenen Fachmann in den Schoß fiel, wie er selber einer war. Hatten nicht all seine womöglich seltsam erscheinenden Neigungen ihn in geradezu idealer Weise für ein solches Ereignis

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