Alles muss versteckt sein (German Edition)
normalerweise durch jeden ihrer Tage begleitet und keine Sekunde von ihrer Seite weicht, scheint verschwunden. Marie ist überrascht. Hat das gestrige Gespräch mit Dr. Falkenhagen ihr den Druck genommen, hat dieser emotionale Aderlass diese Erleichterung gebracht? Oder war es Christophers Überraschungsbesuch? Aber was auch immer der Grund dafür ist, zum ersten Mal erhebt sie sich von ihrem Bett ohne dieses schwere Gewicht, das bisher wie Blei auf ihrer Seele lag und alles abgetötet hat, was sonst in ihr war.
Doch kaum hat Marie den Speisesaal erreicht, um mit den anderen zu frühstücken, ist dieser Anflug neu gewonnener Unbeschwertheit bereits wieder verpufft. Hinten in der Ecke neben der großen Fensterfront sitzt eine sehr junge Frau, die sie hier noch nie gesehen hat, offenbar ein Neuzugang. Bei ihrem Anblick zieht sich Maries Herz zusammen, denn die Patientin ist noch ein Mädchen, ein halbes Kind, das da hockt und mit einem seltsam großen und unhandlichen Holzlöffel versucht, Müsli vom Teller in den Mund zu befördern. Kaum älter als zwanzig ist sie, wie kommt so eine auf diese Station?
»Die ist total platt im Kopf«, behauptet Susanne, die unbemerkt an Maries Tisch getreten ist und dort ungefragt ihr Tablett abstellt. »Ist ’ne Multiple«, erklärt sie weiter, während sie sich hinsetzt. »Heißt Hannah. Oder manchmal auch Karen oder Mark oder Gustav oder welcher Name ihr gerade sonst so einfällt.« Maries Zimmernachbarin tippt sich mit einem Finger gegen die Stirn und verdreht die Augen. »Echt komplett plemplem, die Tante.« Marie dreht den Kopf unauffällig etwas weiter in die Richtung des Mädchens, das so dicht über seinen Teller gebeugt sitzt, dass eine ihrer roten Haarsträhnen im Müsli schwimmt.
»Du kennst sie?«, fragt Marie, obwohl das ja ganz offensichtlich der Fall ist, so, wie Susanne über die Neue spricht.
»Ja. Hannah ist hier ein Dauerbrenner.«
»Dauerbrenner?«
Susanne nickt. »Pendelt zwischen den Stationen hin und her. Ist mal ein paar Monate hier, dann kriegt sie wieder einen Anfall und landet auf der Akuten. Zwischendurch will sie sich umbringen, wird ein paar Wochen ins Krankenhaus gesteckt und kommt dann wieder hierher zu uns.« Sie lacht, als wäre das besonders lustig. »Und ein Luder ist die, hat auf jeder Station schon mit jedem gevögelt.« Susanne beugt sich näher zu Marie, die am liebsten ein Stück von ihr abrücken würde. »Wenn du mich fragst, waren da auch schon der ein oder andere Arzt oder Pfleger dran. Deshalb hat die auch ein Einzelzimmer, dann geht’s leichter.«
Die . Das Mädchen zuckt sichtlich zusammen, als hätte es gehört, was da gerade geredet wird, legt sich wie zum Schutz vor Susannes bösartigen Worten die eine freie Hand übers Ohr. »Ich könnt ja auch mal wieder einen Fick vertragen«, geht das unerträgliche Geplapper weiter, »aber seit sie Mario verlegt haben, gibt’s ja keinen mehr, mit dem ich ins Kontaktzimmer kann.« Sie grinst, und Marie muss sich beherrschen, ihr nicht mit ihrem Teller ins Gesicht zu schlagen.
»Warum isst sie mit einem Holzlöffel?«, fragt sie stattdessen so ruhig wie möglich. Susanne zuckt mit den Schultern.
»Darf kein richtiges Besteck haben, das schluckt die blöde Kuh sonst runter.« Jetzt prustet sie amüsiert. »Musst dir mal die Arme von der ansehen. Hat sich da ein paar hübsche Muster reingeritzt. Mal mit ’ner Kanüle oder ’ner geklauten Nagelschere, die findet immer irgendwas, mit dem sie losschnitzen kann, darum wir die ständig gefilzt. Selbstverletzung, du weißt schon. Also ich würde die ja einfach machen lassen, ist nicht schade um so eine.«
»Warum ist sie hier?«
»Hat ihren Alten abgemurkst. Der hat sie gevögelt, seit sie ein Baby war.«
»Und deshalb ist sie in der Forensik?« Susanne sieht sie begriffsstutzig an. »Hier in der Klapse.«
»Na ja, Hannahs Mutter musste auch gleich mit dran glauben. Ich sag ja, ein echtes Luder ist die!« Wieder wandert Maries Blick rüber zu der hübschen jungen Frau. Jetzt erst bemerkt sie die dicken Verbände, die sie an beiden Armen trägt. An einer Stelle schimmert etwas Rotes durch.
Ein Schaudern geht Marie durch und durch, ihr Körper wird von einer Gänsehaut überzogen, und sie kann nicht einmal sagen, was sie mehr anwidert: Hannahs grauenhaftes Schicksal oder die Art und Weise, wie Susanne voller Häme und Schadenfreude davon berichtet. Im nächsten Moment weiß Marie, was widerlicher ist:
»Mit der verstehst du dich bestimmt
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