Alles muss versteckt sein (German Edition)
gut«, stellt ihre Zimmernachbarin mit heiserem Gelächter fest. »Hab gehört, du hast auch ’nen Kerl abgeschlachtet wie ein Schwein, da habt ihr euch sicher ’ne Menge zu erzählen.«
»Halt den Mund!«, Marie springt vom Tisch auf, lässt Tablett, Teller und ihr nummeriertes Besteck liegen, stürzt so schnell sie kann aus dem Speisesaal. Nicht eine Sekunde länger wird sie sich das noch anhören, keine Sekunde mehr, sonst wird sie sich vergessen, wird irgendetwas Schlimmes tun. Ein Bild durchzuckt Marie: Sie, wie sie Susanne eine Gabel in den Hals rammt oder in ein Auge sticht, es blutet und spritzt in alle Richtungen, der Augapfel platzt, eine gallertartige Masse quillt heraus wie Gelee. Marie schüttelt sich bei dem Gedanken, sie will ihn nicht haben, er soll verschwinden.
Christopher hat recht, sie muss hier raus. Egal, was sie verbrochen hat, das hier ist nicht der richtige Platz für sie, sie gehört hier nicht hin. Nicht an diesen Ort der Hoffnungslosigkeit, nein, hier kann sie nicht bleiben. Wenn die Bilder, die Gedanken sie auch hier nicht in Ruhe lassen, kann sie ebenso gut draußen sein. Draußen, wo sie zwar kein Leben, aber wenigstens nicht die tägliche Hölle hat. Statt wie sonst in ihr Zimmer zu gehen, nimmt sie den direkten Weg zu Dr. Falkenhagens Büro und hofft, dass er da ist und Zeit für sie hat.
Gut hundertzwanzig ABC -Schützen, die Luft in der Aula der Grundschule Falkenried vibrierte vor freudiger Erregung, Geplapper und Gelächter, mahnende Eltern- und Lehrerstimmen, mittendrin Christopher und ich. Wir saßen in einer der hinteren Reihen und hielten wie Teenager Händchen. Celia saß ganz vorn mit den anderen Erstklässlern, jeder von ihnen hatte eine selbst gebastelte Schultüte auf dem Schoß, gefüllt mit Süßigkeiten, Spielzeug und einem Federmäppchen für den »Ernst des Lebens«. Meine Mutter Regina, Celias Oma, stand derweil draußen auf dem Schulhof und rauchte, weil die Luft in der Aula ihrer Meinung nach »zum Schneiden« war.
Celia drehte sich zu uns um, winkte und zeigte dabei lachend ihre Zahnlücke. Mein Herz hüpfte, wie nur ein Elternherz an so einem Tag hüpfen kann. Und gleichzeitig war ich traurig und dachte daran, wie gern Christopher und ich noch ein zweites oder sogar drittes Kind gehabt hätten. Eines, das noch bei mir im Kindergarten wäre, und eines, das vielleicht in einem halben Jahr geboren werden würde, noch ein Mädchen und ein Junge, zwei Jungs, zwei Mädchen, ganz egal. Von der Fußballmannschaft waren wir weit entfernt geblieben, schon Celia grenzte an ein Wunder, so hatte mein Frauenarzt gesagt. Jahrelang hatten wir es versucht, hatten diverse Experten aufgesucht, die keine Ursache für meine Unfruchtbarkeit finden konnten, und dann, als wir es schon aufgegeben hatten, hielt ich plötzlich einen positiven Schwangerschaftstest in Händen und war glücklich wie nie. Deshalb also Celia, wie der Himmel auf Erden, der mit ihrer Geburt in unser Leben Einzug hielt.
»So ist es doch sowieso besser«, hatte meine Mutter gesagt, als es mit einer weiteren Schwangerschaft nicht klappte. »Du bist schließlich auch Einzelkind, und ich glaube sowieso nicht, dass man seine Liebe auf zwei oder sogar noch mehr Kinder aufteilen kann.« Ja, so war Regina, und als Jüngste von vier Geschwistern musste sie ja wissen, wie hart und entbehrungsreich so eine unzumutbare Jugend sein konnte. Immer zu kurz gekommen. Ich dankte täglich dem Herrgott, dass ich nicht so geworden war wie sie, nicht so negativ, nicht so verbittert und böse, denn mein Vater Hans hatte zeit seines Lebens schützend seine Hand über mich gehalten und mich vor den Attacken seiner Frau behütet, die wie aus dem Nichts ausbrechen und auf mich niedergehen konnten.
Vier Jahre zuvor war er an einem Herzinfarkt gestorben, und gerade an diesem Tag fehlte er mir sehr. Er hätte nicht draußen auf dem Hof gestanden und geraucht, er nicht. Er hätte versucht, sich unauffällig zwischen die Kinder in der ersten Reihe zu quetschen, und mit seiner Kamera so viele Fotos geschossen, dass man die gesamte Aula damit hätte tapezieren können. Seine alte geliebte Nikon, ich sah ihn noch vor mir, wie er sie ständig um den Hals trug, um auch die unwichtigsten Details des Lebens festzuhalten. Nach seinem Tod hatte Mama alles zum Trödler schaffen wollen, die Kamera und all den anderen »unnützen Tinnef«, den mein Vater im Hobbykeller gehortet hatte. Den Apparat hatte ich heimlich an mich genommen, seither lag er
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