Alles muss versteckt sein (German Edition)
Töpfchen gefallen bin oder mir sonst etwas Furchtbares geschehen ist.« Der Arzt seufzt, legt Block und Stift auf den Tisch und beugt sich dann ein Stück zu Marie vor.
»Frau Neumann.« Nun ist er wieder ganz der verständnisvolle Onkel Doktor, der noch vor Kurzem Susannes Geburtstagskarte bewundert hat, bevor sie von ihm ins Vandalenzimmer ge sperrt wurd e. »Marie, Sie haben eine schwere seelische Krankheit. Und ich versuche, gemeinsam mit Ihnen herauszufinden, wodurch sie entstanden ist, denn dann können wir Sie auch besser behandeln. Deshalb ist es wichtig zu erkennen, ob Sie schon früher irgendwelche Störungen entwickelt haben und ob der Grund dafür vielleicht in Ihrem Elternhaus zu finden ist. Es ist gut möglich, dass Sie bereits viel länger an Zwängen leiden, als Ihnen überhaupt bewusst ist.«
»Nein.« Marie schüttelt den Kopf. »Meine Mutter ist streng und sehr genau, das stimmt. Und Christopher und ich wollten deshalb auch nicht, dass Celia zu viel Zeit mit ihr verbringt. Eben weil wir der Meinung sind, dass Kinder anders erzogen werden sollen, mit viel Freiheit, Liebe und Eigenverantwortung. Aber so schrecklich ist meine Mutter nun auch wieder nicht, Celia hatte ihre Oma sehr lieb.«
Sie erinnert sich daran, wie sie einmal dabei war, als Regina Celia wegen einer Lappalie – sie hatte ein Glas Limonade umgestoßen – anschrie, sie mit den Worten »Bist du noch ganz bei Trost?« am Ellbogen packte und vom Tisch wegzerrte. Damals war Marie dazwischengegangen, hatte den Arm ihrer Mutter fest umklammert und dafür gesorgt, dass sie von Celia abließ. Im selben Moment hatte sie sich selbst vor Augen gehabt: Sie, Marie, im gleichen Alter, in der gleichen Situation, ein umgefallenes Glas oder ein Löffel, der vom Tisch gepurzelt war. Der eiserne Griff ihrer Mutter, die aufgebracht gezischte Maßregelung.
Maßregelung, ja, das hat Marie schon früher einmal erlebt, und bei der Erinnerung daran zieht sich ihr der Magen zusammen, sie fühlt sich wieder klein und schutzlos. Damals hatte ihr Vater sie verteidigt, hatte seiner Frau gesagt, dass das doch wohl keine große Sache sei und sie beruhigt. Jetzt, in diesem Moment, in dem Marie – erstaunlicherweise zum ersten Mal! – diese Parallele zieht, fragt sie sich, ob ihr Vater damals dieselbe Wut em pfunden hatte wie sie, als ih re Mutter Celia wegen einer Kleinigkeit so anschnauzte. Denn das war das Gefühl, das in ihr tobte: Wut. Vermischt mit der unbändigen Lust, Regina zu schlagen, wieder und wieder, so fest sie nur konnte, bis ihre Nase brechen würde, und dann noch einmal und noch ein mal und noch einmal.
»Celia mochte ihre Großmutter also?«
»Ja.« Die Oma, die Ferrero Küsschen mitbrachte und mit zum Ballett ging, um sie dort zu bewundern. Die ihr hübsche Kleider kaufte und an Weihnachten mit Dutzenden von Geschenken auftauchte, sodass es einer Explosion unterm Tannenbaum glich, die zu Kindergartenfesten kam und ihr Geschichten vorlas, die liebte Celia, sehr sogar. Die andere bekam sie dank Marie nicht sonderlich häufig zu Gesicht. Und deshalb Falkenried statt Klosterhofschule, so einfach war das.
»Gut.« Wieder greift er nach seinem Block und schreibt etwas auf, die Stirn hoch konzentriert in Falten gelegt, als ginge es um eine komplizierte Forschungsarbeit. Möglicherweise tut es das sogar, und Marie ist sein Forschungsobjekt. Subjekt. Dieses Subjekt, über das es herauszufinden gilt, wie aus einer einfachen Kindergärtnerin, einer glücklichen Ehefrau und Mutter, eine eiskalte Mörderin werden kann. Vielleicht lässt sich ja doch alles mit einem Sturz vom Töpfchen erklären? »Noch einmal zurück zu Ihnen«, fährt er dann fort. »Sie haben also früher noch nicht unter Zwangsgedanken oder - handlungen gelitten? Zum Beispiel in Stresssituationen?«
»Nicht dass ich wüsste«, sagt sie wahrheitsgemäß.
»Haben Sie jemals irgendwelche Zählrituale ausgeführt? Beispielweise beim Einkaufen immer nur die dritte Tomate genommen? Oder die fünfte? Mussten Sie bei irgendetwas eine bestimmte Reihenfolge einhalten, damit nichts Schlimmes passiert? Umwege laufen, um eine spezielle Route zu gehen oder irgendwelche Ort zu meiden?« Sie schüttelt den Kopf.
»Nein. Für so etwas hätte ich gar keine Zeit gehabt.« Er räuspert sich.
»Darum geht es leider nicht, glauben Sie mir. Was ist mit Kontrollzwängen? Zwanzig Mal nachsehen, ob Herd, Bügeleisen oder andere Elektrogeräte auch wirklich ausgeschaltet sind? Wasserhahn, Lichtschalter
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