Alles muss versteckt sein (German Edition)
»normalen« Gefängnis zu entgehen.
Doch auch das scheint absurd, denn man muss nur kurze Zeit hier sein, um zu erkennen, dass eine gängige Justizvollzugsanstalt im Vergleich zu dieser Einrichtung das Paradies auf Erden sein muss. Ein paar Jahre Strafe absitzen und gut. Denn das hier zählt ja nicht einmal als Strafe, schließlich gelten sie alle als schuldunfähig. Ohne Schuld keine Strafe, ohne Schuld keine Dauer der Nichtstrafe, ohne Schuld bis auf Weiteres einfach nur weggeschlossen. Klappe zu, aber Affe – leider! – nicht tot.
»Ich habe dich beobachtet«, sagt Hannah.
»Ach ja?«
Das Mädchen nickt. »Sie sagen, du bist Kindergärtnerin.«
»Sie?«
»Die Pfleger, die anderen Patienten.«
»Ja, das bin ich. Oder, besser gesagt, war ich es mal.«
»Magst du Kinder?«
»Natürlich tue ich das!« Was für eine seltsame Frage, denkt Marie. Im nächsten Moment wird sie von einer Mischung aus Angst und schlechtem Gewissen erfasst, denn so ganz kann das ja nicht stimmen, das kann es nicht. Das hat sie bis heute nicht verstanden, woher auf einmal die grauenhaften Fantasien kamen, wo sie ihren Ursprung hatten. Elli hatte es ihr damals erklärt, schon ganz zu Anfang, in einer der ersten Mails, die sie miteinander ausgetauscht hatten: »Der Zwang stürzt sich perfiderweise auf genau das, was wir am meisten lieben.« Ein trauriger Trost war das, wie hätte Marie denn aufhören sollen zu lieben?
Als Elli ihr das schrieb, musste Marie an ein Theaterstück denken, das sie mal als Kind gesehen hatte. Sie konnte sich nicht mehr an den Titel erinnern, nur daran, dass es um ein Mädchen ging, das sich wünschte, dass alles, was es berührte, zu Gold wird. Und so geschah es dann auch, wirklich alles wurde zu Gold. Doch nach der ersten Freude darüber wurde dem Mädchen mit Schrecken bewusst, dass es verhungern würde, denn auch Essen und Trinken verwandelten sich in Gold, der Traum war in Wahrheit ein schrecklicher Fluch. Und so, wie das Mädchen Angst davor hatte, noch etwas anzufassen, hatte Marie plötzlich Angst davor, etwas zu lieben. Mit Recht, wie sich gezeigt hat, denn auch Patrick ist jetzt leblos wie Gold.
»Doch«, betont Marie nun noch einmal, denn hier ist sie ja sicher verwahrt, es kann nichts passieren, egal, was mit ihren Gefühlen ist, »ich liebe Kinder wirklich sehr.«
»Ich würde dich gern um etwas bitten.«
»Um was denn?« Sie ist erleichtert, dass Hannah einfach weiterspricht und nicht zu bemerken scheint, was ihre simple Frage gerade in Marie ausgelöst hat, wie sehr sich in ihrem Kopf schon wieder alles dreht, es nahezu drunter und drüber geht.
»Könntet du dir mit mir ein Zimmer teilen?«
»Ein Zimmer teilen?« Die Frage verwirrt Marie. »Ich wohne doch schon mit Susanne zusammen!«
»Ich weiß.« Hannahs Blick wandert rüber auf die andere Seite des Hofs, wo Maries Zimmernachbarin wieder mit Günther steht und spricht. Das Gesicht des Mädchens nimmt seltsam harte Züge an, fast feindselig mustert sie Susanne, um sich im nächsten Moment wieder lächelnd Marie zuzuwenden. »Verstehst du dich gut mit ihr?«
»Ist ganz okay«, meint Marie und erinnert sich daran, wie sie Susanne noch vor Kurzem eine Gabel ins Auge stechen wollte. »Hier kann man es sich ja nicht aussuchen.«
»Vielleicht doch. Wir könnten Susanne fragen, ob sie mit mir das Zimmer tauscht.«
»Du hast aber doch ein Einzelzimmer! Willst du das nicht behalten?«
»Nein. Ich habe Angst, nachts allein zu schlafen.« Wieder verändern sich Hannahs Gesichtszüge, gleichzeitig scheint ihre Stimme einen anderen Tonfall anzunehmen, jetzt wirkt sie nicht einmal mehr wie ein Mädchen, sondern eher wie ein kleines Kind. Ein kleines Kind, das Angst vor der Dunkelheit hat, wenn es nachts allein ist.
»Sicher können wir sie fragen.« Es ist Marie nicht nur egal, mit wem sie sich das Zimmer teilt. Etwas an Hannah rührt sie im Innern an, am liebsten würde sie sogar einen Arm um das rothaarige Mädchen legen. Wenn nur die Sache mit dem Gold nicht wäre, aber wenigstens will sie versuchen, wieder einen Menschen zu mögen und ein Stück an sich heranzulassen. Vielleicht wird der Fluch ja irgendwann gebrochen? Und da ist eben etwas in Marie, das ihr sagt, dass sie Hannah mögen, sie sogar richtig gernhaben könnte. »Wenn Susanne nichts dagegen hat und die Ärzte es auch erlauben, ist das für mich kein Problem.«
»Danke!« Hannah strahlt sie an, springt im nächsten Moment auf und läuft rüber zu Susanne. Marie sieht dabei
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