Alles muss versteckt sein (German Edition)
Krankheit wie aus einem schlechten Science-Fiction-Film. Nur dass es leider kein Film ist, sondern mein Leben.« Dann schüttelt sie den Kopf, als könne sie selbst nicht fassen, in was für einen Film sie da geraten ist.
»Ich würde es aber gern verstehen.«
»Gut.« Hannah überlegt einen Moment, blickt weiterhin an die Decke, dann spricht sie weiter: »Meistens bin ich Hannah. Das ist die, die jetzt gerade mit dir spricht.«
»Jetzt gerade?«
»Ja. Eben war ich Mark.«
»Mark?« Sie nickt.
»Dann gibt es noch Karen und die Kinder. Und noch ein paar mehr Leute. Sie sind alle in mir.«
»In dir?« Marie gibt sich Mühe, nicht allzu skeptisch zu wirken.
»Meine Seele hat sich in verschiedene Persönlichkeiten aufgespaltet. So haben sie es mir mal erklärt, als sie angefangen haben, mich zu therapieren. Das ist, als würde ich aus mehreren Menschen bestehen. Sie sind unterschiedlich alt, manche männlich, die meisten weiblich.« Sie nimmt einen weiteren Zug. »Hannah und Mark rauchen, die anderen nicht, sie haben unterschiedliche Vorlieben und Ansichten, es ist wirklich so, als wären es eigenständige Personen.«
»Und wie kann das passieren?«
»Die Ärzte haben mir gesagt, dass meine verschiedenen Persönlichkeiten mich schützen wollen.«
»Schützen? Vor was?«
Hannahs Hand umkrampft ihre Zigarette, so fest, dass sie den Filter zusammenquetscht und die Hitze darin ihr fast Zeige- und Mittelfinger verbrennt. »Glaub mir, das willst du nicht wissen!«
»Vor deinem Vater? Vor deiner Mutter?«, fragt Marie trotzdem weiter. Susanne hatte ihr ja erzählt, Hannah hätte ihre Eltern ermordet.
»Ja. Und vor all den lieben Onkeln und Tanten, vor denen auch. Vor all denen, die sich ja so sehr um mich gesorgt haben.« Sie wendet den Blick von der Decke ab, dreht sich zu Marie um und sieht sie direkt an. »Immer wenn es zu schlimm wurde, wenn ein Teil meines Ichs es nicht mehr aushalten konnte, was sie mit mir gemacht haben, ist dieser Teil in meinem Innern verschwunden, abgetaucht. Dann ist ein neuer entstanden und hat übernommen. Wenn ich, also Hannah, Schläge bekommen habe oder mir wehgetan wurde und der Schmerz nicht mehr aufzuhalten war, dann musste ich weg. Dann ist eine neue Person in mir aufgetaucht, eine, die das besser ertragen konnte.«
»Verstehe«, sagt Marie und begreift kein Wort.
»Wie ein Stellvertreter, so in der Art ist das. Du selbst gehst weg – und jemand anders hält das aus, was du nicht mehr ertragen kannst.«
Marie denkt: Wie schön das doch wäre! Wenn ein anderer ihr das Erlebte abnehmen würde. Die Erinnerungen, die schmerzhaften Erinnerungen an ihr früheres Leben, an Celia, an all den Kummer, den sie erleiden musste, die Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit, die mit der Trennung von Christopher Einzug hielten. Und den Moment, als sie neben Patrick erwachte, als sie all das Blut sah und erst langsam begriff, dass er tot war, getötet durch ihre eigene Hand. Ja, den würde sie auch gern abgeben, diesen furchtbaren Moment, so als hätte sie damit überhaupt nichts zu tun. Es ist ein anderer gewesen, nicht ich, das war jemand anderes! »Klingt nicht übel.«
»Nein«, widerspricht Hannah. »Es ist eine Folter. Ich bin zerrissen, meine Seele besteht nur noch aus Fetzen, aus zusammenhanglosen Teilen, die so gut wie nichts miteinander zu tun haben. Als wären in mir verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Erinnerungen, sie existieren parallel zueinander, lange Zeit wussten sie nicht mal voneinander.« Sie macht eine Pause, zieht an ihrer Zigarette, dann spricht sie weiter. »Vorhin hab ich ja nicht einmal dich erkannt, weil Mark dir noch nie begegnet ist. Ständig habe ich Erinnerungslücken, weiß nicht mehr, wie oder warum ich irgendwo gelandet bin, was ich gesagt oder getan habe, weil die Teile meines Bewusstseins unabhängig voneinander handeln und sich meistens nicht miteinander austauschen. Als hätte ich ständig Amnesien, einen Filmriss nach dem nächsten. Und damit das keiner merkt, bin ich zur Meisterin im unauffälligen Nachfragen geworden. Das ist so, als würdest du jemanden treffen, den du noch nie gesehen hast. Der andere dich aber schon, er begrüßt dich freundlich mit Namen. Und weil du nicht zugeben willst, dass du dich nicht erinnern kannst, versuchst du, irgendwie herauszufinden, wie er oder sie heißt und woher ihr euch kennt.« Verstohlen knibbelt sie an der Nagelhaut ihrer Finger herum, die schon ganz rau und aufgerissen ist, ihre Stimme klingt klein,
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