Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alles muss versteckt sein (German Edition)

Alles muss versteckt sein (German Edition)

Titel: Alles muss versteckt sein (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wiebke Lorenz
Vom Netzwerk:
traurig und hoffnungslos. »So ist das. Und dann kann ich nicht einmal selbst beeinflussen, welche meiner Persönlichkeiten gerade übernimmt. Ich lebe nicht selbst, ES lebt mich.«
    »Tut mir leid«, sagt Marie und fühlt sich mit einem Mal unglaublich dumm, weil sie Hannah für den Bruchteil einer Sekunde sogar beneidet hat.
    Zögernd spricht Hannah weiter. Erzählt davon, woran sie sich noch erinnern kann, was sie nicht komplett verdrängt oder erst in der Therapie herausgefunden hat. Von ihrer Kindheit und Jugend, von den Schlägen und dem Missbrauch, seit sie ein Baby war. Von erwachsenen Männern, die kleine Kinder brutal vergewaltigen. Von Ärzten, die wegsehen und die hanebüchene Märchen glauben, von Barbiepuppen, die ein Kind sich beim Spielen selbst eingeführt hat, von Treppenstürzen oder Balgereien unter Kindern. Davon, wie ein Kind benutzt wird wie eine Sache, die man wegwerfen kann, wenn sie endgültig kaputtgeht. Wie Tränen zu noch mehr Schlägen führen, und wie Mütter tatenlos zusehen und ihr Kind nicht retten vor einem perversen Vater oder Onkel, sondern sogar noch zu Komplizen werden.
    Mit jedem von Hannahs Worten wachsen Ekel und Traurigkeit in Marie. Und gleichzeitig die Angst. Denn während sie Hannah zuhört, ist da noch ein weiterer Gedanke, der wie in einer Endlosschleife durch ihren Kopf kreist: Und ich? Was ist mit mir? Habe ich nicht auch das Abscheulichste, das Niederträchtigste, das Unaussprechlichste gedacht? Wollte ich nicht ausgerechnet die, die man mir anvertraut hat, quälen und zerstören? Habe ich am Ende nicht auch einen Menschen getötet, nicht nur innerlich, sondern sogar wirklich?
    »Was ist los?« Marie merkt gar nicht, dass sie weint. Erst als Hannah sich unterbricht und sie sorgenvoll mustert, wird ihr bewusst, dass ihr dicke Tränen übers Gesicht kullern. Sie wischt sie mit dem Ärmel ihres Schlafanzugoberteils fort, zieht geräuschvoll die Nase hoch, wie es sonst nur Kinder oder schlecht erzogene Erwachsene tun.
    »Gibst du mir noch eine Zigarette?« Mit zittrigen Händen steckt sie die angezündete Kippe, die Hannah ihr reicht, zwischen die Lippen, nimmt einen tiefen Zug, stößt Luft und Qualm geräuschvoll wieder aus. Dann fängt sie an zu reden. Gesteht Hannah das, was sie bisher nur Dr. Falkenhagen erzählt hat. Das und mehr. Quid pro quo.
    Ich schäme mich.
    Schäme mich, schäme mich, schäme mich.
    Die Angst, dass irgendjemand etwas merken könnte, ist unerträglich, das muss ich unbedingt verhindern! Die Angst, etwas zu tun, was ich nicht will, noch größer. So groß, dass sie mich überwältigt, dass ich manchmal kaum atmen kann.
    Niemand darf wissen, was mit mir los ist!
    Was habe ich getan, dass es ausgerechnet mich trifft? Warum?
    Woher kommt dieser Druck in meiner Brust, in meinem Kopf, als würde ich in einem Käfig stecken? In einem Gefängnis, das ich mir selbst erschaffen habe. Manchmal denke ich, dass ich platzen werde, dass ich den Druck nicht mehr aushalten kann.
    Bin ich ein schlechter Mensch? Ist das, was ich denke, echt? Ist es das, was mich ausmacht, das, was ich wirklich bin – und alles andere ist nur Fassade?
    Ich werde verrückt, wahnsinnig, ich gehöre weggesperrt.
    O mein Gott, bitte hilf mir!
    Im Internet fand ich sie alle: die Fragen und Gedanken, die mich seit Wochen verfolgten. Hier waren Menschen, die genau dasselbe erlebten und durchlitten wie ich. Die sich in der Anonymität des Netzes miteinander austauschten, die nur hier den Mut hatten, ihre schrecklichen Fantasien aufzuschreiben, sie in Worte zu fassen, sie sich selbst und anderen einzugestehen.
    Und sie waren schrecklich, diese Gedanken. Entsetzlich. Unmenschlich. »Gehirnverschmutzung« wurden sie von einem User genannt. Aber dieses Wort war viel zu harmlos für das, was ich hier las.
    Da war die Geschichte von Robert, der in Wahrheit vielleicht Sebastian heißt oder Michael, irgendwie eben, nur mit Sicherheit nicht Robert, und der sich seit zwei Jahren bei seinen Eltern verkriecht. Fünfundzwanzig Jahre alt, hilflos wie ein Kind. Ohne Job, ohne Zukunft, den Kontakt zu allen Freunden abgebrochen aus Angst, sie könnten ihn verurteilen für das, was er jetzt ist. Für das, was er denkt.
    Wie bei allen anderen fing es harmlos an, mit der zufälligen Berührung einer Arbeitskollegin, die sich beim Mittagessen in der Kantine an ihm vorbeidrängelte, wobei ihr Busen flüchtig Roberts Rücken streifte. Ein kleines, verlegenes Lächeln bei der Kollegin – und in Robert der

Weitere Kostenlose Bücher