Alles muss versteckt sein (German Edition)
gelesen?«, fragt sie und ärgert sich im nächsten Moment darüber. Damit hat sie verraten, dass sie sich schon über Patrick und seine Geschwister erkundigt hat.
»Ja«, antwortet er, wirkt dabei aber nicht im Geringsten verwundert oder geschmeichelt. Die Offenheit, mit der er ihr selbst begegnet, scheint ihn auch bei anderen nicht zu überraschen. »Felix steht noch am Anfang«, fährt er fort, »aber ich bin sicher, dass er bald seinen Durchbruch haben wird. Er ist wirklich gut.«
»Dann seid ihr ja eine richtige Künstlerfamilie! Zwei schreibende Brüder, Vera ist Schauspielerin … «
»Das haben wir wohl von unseren Eltern geerbt. Unser Vater war Regisseur, unsere Mutter auch Schauspielerin.«
»War?«
»Ja«, er nickt. »Sie sind schon viele Jahre tot, erst starb mein Vater an Krebs, ein Jahr später unsere Mutter.«
»Das tut mir leid.«
»Wie gesagt, es ist schon lange her, über zwanzig Jahre. Ich war damals gerade neunzehn, Vera erst acht und Felix zwölf. Das war ziemlich hart für uns.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagt sie, und als hätte er sie mit seinem Geständnis dazu aufgefordert, nimmt sie einfach seine Hand, sodass ihre Finger nun ineinander verschränkt auf der rauen Platte des Holztisches liegen, an dem sie sitzen. Wir sind noch ganz lange da, Papa und ich gehen nicht weg . Ob seine Eltern das ihm, Vera und Felix auch einmal versprochen haben?
»Unsere Eltern waren früher nicht oft zu Hause«, spricht Patrick weiter und betrachtet dabei ihre ineinander verschränkten Hände. Er lächelt fast versonnen, sein Daumen fängt an, über ihren zu streicheln, sofort sind Maries Arme von einer Gänsehaut überzogen. »Ständig waren sie auf Tournee oder hatten Engagements in anderen Städten. Vera, Felix und ich waren viel allein, meistens hat eine Haushälterin nach uns gesehen, weil die Eltern meines Vaters in Irland lebten, unsere Großeltern mütterlicherseits in Frankfurt. Aber mittlerweile sind die auch schon tot.«
»Und nachdem eure Eltern gestorben sind?«
»Sollten wir eigentlich getrennt werden. Vera und Felix sollten zu unserer Tante Sophia, der Schwester meiner Mutter, die auch in Frankfurt wohnt. Ich selbst war ja schon volljährig und wollte in Hamburg bleiben, hier Abitur machen und dann mein Studium beginnen.«
»Aber es ist anders gekommen.«
Er nickt. »Ich habe beim Jugendamt darum gekämpft, dass wir zusammenbleiben können. Das Haus unserer Eltern war abbezahlt, die Waisenrente zusammen mit den Lebensversicherungen mehr als ausreichend, da habe ich keinen Grund gesehen, dass nicht alles so bleiben kann, wie es ist. Oder«, er lächelt sie traurig an, »dass nicht zumindest so viel wie möglich so bleibt, wie es ist.«
»Dann hast du dich also um deine Geschwister gekümmert?« Ein Gefühl der Rührung steigt in Marie auf, ein eigentlich schrecklich plattes Gefühl, das man hat, wenn man einen kitschigen Hollywoodfilm sieht. Doch es ist halt so, die Vorstellung von Patrick, der, selbst kaum erwachsen, darum kämpft, mit seinen Geschwistern zusammenzubleiben, berührt sie sehr.
»Eine Zeit lang ja«, sagt er. »Nach gut zwei Jahren ging es aber nicht mehr, ich war mit der Situation doch ziemlich überfordert. Zwei schulpflichtige und pubertierende Teenager im Haus, ich selbst gerade am Anfang meines Germanistikstudiums, das war irgendwann einfach zu viel. Vor allem mit Felix hatte ich viele Probleme, er war ein kleiner Rebell, hörte nie auf mich und machte eigentlich nur das, wozu er gerade Lust hatte. Zur Schule zu gehen gehörte nicht gerade dazu.« Wieder lacht Patrick auf. »Eher heimlich rauchen und kiffen, mit seinen Kumpels Bier trinken und um die Häuser ziehen, das war mehr sein Ding. Klar, mit vierzehn total normal, aber ich hatte Angst, dass er mir irgendwann komplett aus dem Ruder läuft.«
»Und dann?«
»Felix ist dann doch nach Frankfurt zu unserer Tante gezogen, Vera und ich blieben in unserem Elternhaus.« Als er das sagt, wird aus dem Wölkchen um seine Stirn eine dichte Nebelwand. »So richtig hat er mir das bis heute nicht verziehen, glaube ich.«
»Aber du hättest ja nichts anderes tun können«, erwidert Marie. »Du warst doch selbst noch ein halbes Kind.«
»Ja, das war ich. Trotzdem, der Tag, an dem Tante Sophia nach Hamburg kam, um Felix abzuholen, den werde ich nie vergessen. Er hat geschrien und getobt, gebettelt und geweint, wollte auf gar keinen Fall mit unserer Tante wegfahren und hat immer wieder versprochen, ab sofort ganz
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