Alles muss versteckt sein (German Edition)
Zimmergenossin, die sich zu ihr ins Bett gelegt hat.
»Schscht«, macht Hannah nun tatsächlich und streichelt über ihre Hand, während Marie langsam aus ihrem Traum zurück in die Wirklichkeit driftet. »Wein doch nicht«, flüstert das Mädchen, »es ist alles gut, es war nur ein Traum. Nicht mehr weinen, ja?« Marie rückt ein Stück von ihr ab, setzt sich im Bett auf, reibt sich die verweinten Augen. »War’s so schlimm?«, will Hannah wissen, sieht sie besorgt an und richtet sich ebenfalls auf.
»Nein.« Marie schüttelt den Kopf. »Es war so schön. Deshalb musste ich weinen, weil das, was ich geträumt habe, so schön war.«
Das Mädchen lächelt sie an. »Dann leg dich schnell wieder hin, vielleicht kommt der Traum ja zurück?«
»Das will ich gar nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil es mich nur daran erinnert, was ich nicht mehr habe.«
»Wenigstens hattest du es«, sagt Hannah, ihr Lächeln ist nun fast verschwunden. »Wenn ich träume, ist da nichts, was jemals schön war. Nicht eine einzige Erinnerung, die ich mir zurückwünschen würde.«
»Nicht eine einzige?«
»Nicht eine.«
»Das muss schlimm sein.«
»Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Doch, es ist schlimm. Und dann auch wieder nicht. Weil es deshalb auch nichts gibt, was ich da draußen vermisse, worum ich kämpfen könnte.«
»Ja.« Marie nickt. »Das stimmt.« Vermissen, um etwas kämpfen, Celia, Patrick. Und Christopher, der sie verlassen hat und wahrscheinlich nur deshalb hier aufgetaucht ist, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen. Marie denkt an den langen Brief, den er ihr geschrieben hat, und schüttelt unmerklich den Kopf, nein, da tut sie ihm unrecht, seine Worte klangen nach aufrichtiger Sorge. Nach jemandem da draußen, auf den sie bauen könnte, wenn sie wollte.
Vielleicht haben ihr Exmann und Dr. Falkenhagen ja recht? Dass sie nur kämpfen muss, einfach ein bisschen kämpfen, und dann wird alles eines Tages wieder schön? Oder wenigstens erträglich? Dann wird sie irgendwann wieder leben, vielleicht sogar wieder lieben können?
8
»Hallo, hier ist Marie.« Am nächsten Morgen geht sie direkt nach dem Frühstück zum Patiententelefon im Flur und ruft Christopher an. Um sich für seinen langen Brief zu bedanken, den er ihr in die Klinik geschickt hat, und um ihm zu erzählen, dass sie mit der Therapie begonnen hat. Eigentlich hat sie mit seinem Anrufbeantworter gerechnet, denn ihr Exmann ist ja meis tens unterw egs. Aber entgegen ihrer Erwartung nimmt er sofort ab.
»Das ist wirklich toll, Marie!«, sagt er. »Du klingst auch schon viel besser.«
»Ein bisschen besser geht es mir auch.«
»Mach einfach weiter so, dann wirst du bestimmt bald wieder gesund!« Er lacht, und sie sieht ihn beinahe vor sich, ihren Sonnyboy, wie er da steht, das Telefon zwischen Kopf und Schulter eingeklemmt, die Zungenspitze guckt ein kleines Stückchen zwischen seinen Zähnen hervor, wie immer, wenn er fröhlich ist. »Mongo«, hat er dazu immer grinsend gesagt, »ich lache wie ein kleiner Mongo. Aber Hauptsache, mit Spaß bei der Sache!« So war er schon immer, optimistisch und voller Lebensmut, immer, bis auf die Zeit nach Celias Tod, da war selbst er in seiner Lebenslust zutiefst erschüttert.
Aber jetzt, während sie mit ihm spricht, ist der alte Christopher wieder da, der, in den sie sich mal verliebt hat. Der, den sie so vermisst hat, nachdem Celia starb.
»Hör zu«, redet er weiter, »ich weiß, dass das für dich kein leichter Weg wird. Aber ich kann nur wiederholen, was ich dir schon gesagt habe: Wenn du mich brauchst, bin ich da. Jederzeit, du musst es nur sagen, dann komme ich!«
»Aber du bist doch bestimmt schon bald wieder im Ausland.«
»Nein, ich bleibe jetzt mindestens ein halbes Jahr in Hamburg, hier hat sich für mich ein Job ergeben.« Zum ersten Mal seit langer Zeit spürt Marie wieder etwas wie ein zärtliches Gefühl für ihren Exmann. Denn sie weiß, was er eigentlich meint: Für dich bleibe ich hier.
»Danke«, sagte sie.
»Du musst dich nicht bedanken.« Jetzt wirkt er ein bisschen peinlich berührt. »Das hätte ich damals schon tun sollen, statt mich in der Arbeit zu vergraben und … «
»Schon gut«, unterbricht sie ihn . »Ich melde mich bei dir, wenn du mich besuchen kannst.«
»Gut. Dann warte ich auf deinen Anruf.«
Sie legen auf, Marie blickt noch einen Moment auf den Hörer, der auf der Gabel des Wandtelefons leicht hin und her schaukelt. Dann wandert ihr Blick zu der großen Uhr am Ende des Flurs.
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