Alles öko!: Ein Jahr im Selbstversuch (German Edition)
Countdown wie an Silvester. Bei null legte ich den Hauptschalter um, und es wurde dunkel. Funken flogen durch die Luft, als ich mein Streichholz anzündete. Ich hielt es an die Kerze des Menschen neben mir, der gab das Feuer weiter an den Nächsten, und immer so weiter, bis jeder eine brennende Kerze in der Hand hielt. Es war ein romantischer Augenblick.
Doch dann sah ich die Gesichter der Leute.
Und jetzt?
, schienen sie alle zu denken. Wegen des Kerzenlichts sprachen plötzlich alle ganz leise. Die Ersten fingen an zu gähnen. Eine Viertelstunde nachdem ich den Strom abgeschaltet hatte, waren alle gegangen.
Ich fühlte mich schrecklich. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich an Seans Worten festzuhalten, dass das Projekt die Leute zum Nachdenken bringen würde, selbst wenn sie sich dabei unwohl fühlten. Bei meinem Stromabschalten ging es nicht um den Versuch, für immer ohne Elektrizität zu leben. Es ging um die Inspiration für uns selbst, unsere Freunde und jeden, der sich dafür interessierte, sich auf die Suche nach einer besseren, befriedigenderen Lebensweise zu machen, die buchstäblich nicht die Welt kostete. Oder anders gesagt, es ging um den Versuch, den Papst in eine heiße Wanne zu kriegen.
Was ist das Schwerste?, wollten alle wissen.
Ist es die Sache mit dem Müll oder das Radfahren oder das Leben ohne Kühlschrank, oder was?
Tatsächlich war es nichts von alldem. Das Schwerste war die Abkehr von Gewohnheiten. Sich aus den eingefahrenen Gleisen zu hieven und zu lernen, Dinge anders zu machen. Alles in einem will zurück auf die alten Gleise, zumindest eine Zeitlang. Genauer gesagt, ungefähr einen Monat lang. So lange braucht man offenbar, um eine Gewohnheit zu ändern.
Wenn man also daran gewöhnt ist, mit dem Taxi zur Arbeit zu fahren oder mit dem Aufzug in den neunten Stockoder sich die Nase mit einem Papiertaschentuch zu putzen oder seiner kleinen Tochter Plastikwindeln anzulegen, werden die ersten vier Wochen mühsam. Nicht weil die neue Art, die Dinge zu handhaben, als solche mühsam ist. Sondern weil man sein ganzes Leben auf die alten Verhaltensweisen abgestimmt hat.
Wachstumsschmerzen. Aber was wäre die Alternative? Nicht zu wachsen?
Falls unsere Kultur jemals beschließt, tatsächlich etwas gegen den Klimawandel und die anderen Umweltprobleme zu unternehmen, die unser Dasein bedrohen, werden wir alle Wachstumsschmerzen haben. Was werden wir tun, um den Gemeinden zu helfen, die vom Kohleabbau leben? Was wird aus der Autoindustrie, wenn wir statt Autobahnen Gleise bauen? Was passiert, wenn wir der rohstoffintensiven Konsumwirtschaft ein Stoppschild vor die Nase halten?
Das sind die Gründe, weshalb wir uns nicht aufraffen können. Das sind die Gründe, weshalb viele von den Politikern so tun, als wäre es politisch nicht machbar, etwas gegen den Klimanotstand zu unternehmen. Weil sie glauben, dass wir die Unbequemlichkeiten nicht auf uns nehmen wollen, die mit dem Wechsel zu einer ressourcenschonenden Lebensweise verbunden wären. Weil sie glauben, wir würden die Wachstumsschmerzen nicht akzeptieren. Doch was diese Politiker dabei übersehen, ist das Wachstum, das mit den Schmerzen verbunden ist. Nicht unbedingt wirtschaftliches Wachstum – wir haben ja bereits festgestellt, dass das nicht notwendigerweise der wichtigste Parameter ist –, sondern menschliches Wachstum. Wachstum von Lebensbewusstsein und Lebensqualität.
Doch was für alle anderen Phasen zuvor gegolten hatte, galt auch für die stromlose Phase. Erst die Wachstumsschmerzen. Dann das menschliche Wachstum.
Wie ich schon gesagt hatte, funktionierte der Topf im Topf bei mir einfach nicht. Die Milch wurde sauer. Das Gemüse vergammelte. Ein paarmal mussten wir sogar gegen unsereErnährungsregel verstoßen und ins Restaurant gehen, weil das Essen schlecht geworden war. Dann lernte ich, weniger und dafür öfter einzukaufen. Bisher war ich einmal in der Woche zum Bauernmarkt gegangen, jetzt ging ich dreimal. Statt frischer Milch gab ich Isabella konservierte – und zwar in Form von Käse. Ich steckte das Gemüse wie Blumen in eine Vase, damit es länger hielt. Es dauerte eine Weile, aber schließlich fand sich für alles eine Lösung.
Das andere große Problem war – mehr für mich als für Michelle –, dass der Solarstrom nicht ausreichte, um meinen Laptop bis spät in die Nacht am Laufen zu halten. Was tat ich also? Ich begann tagsüber zu arbeiten. Tolles Konzept, nicht? Die Arbeit am Tag zu erledigen,
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