Alles Sense
verlassen, wenn sich Vater richtig über die Steuerbeamten aufzuregen begann. Sie sind abscheulich. Schnüffeln überall herum und fragen, was man unterm Holzstapel und in den geheimen Kellernischen versteckt hat. Obwohl das niemanden etwas angeht.«
Ein empörtes Schniefen beendete den Vortrag.
Bill Tür war beeindruckt. Frau Flinkwert sprach »Steuerbeamter« ungefähr so aus wie »Abschaum«.
»Du hättest gleich zu Anfang darauf hinweisen sollen, daß es solche Leute auf dich abgesehen haben«, fuhr die alte Dame fort. »Weißt du, die Steuerbeamten sind in dieser Gegend alles andere als beliebt. Damals, als mein Vater noch lebte… Wenn ein Steuerbeamter so dumm war, allein hierherzukommen, banden wir ihm Gewichte an die Füße und warfen ihn in den Teich.«
DER TEICH IST DOCH NUR EINIGE WENIGE ZENTIMETER TIEF.
»Ja, aber das mußten die Burschen erst einmal herausfinden, und es machte eine Menge Spaß, ihnen dabei zuzusehen. Oh, du hättest es mir sofort mitteilen sollen. Alle argwöhnten einen Zusammenhang zwischen dir und den Steuern.«
NEIN. MIT STEUERN HABE ICH NICHTS ZU TUN.
»Na so was… Ich hatte keine Ahnung, daß es auch da oben Steuerbeamte gibt.«
STEUERBEAMTE, JA. IN GEWISSER WEISE.
Frau Flinkwert schob sich etwas näher an ihn heran.
»Wann kommt er?«
HEUTE NACHT. DEN GENAUEN ZEITPUNKT KENNE ICH NICHT. ZWEI PERSONEN LEBEN VON DER GLEICHEN ZEIT – DADURCH BEKOMMEN DIE EREIGNISSE EINE GEWISSE UNBESTIMMTHEIT.
»Ich wußte gar nicht, daß man anderen Leuten einen Teil des eigenen Lebens abgeben kann.«
ES GESCHIEHT DAUERND.
»Und du bist ganz sicher in Hinsicht auf heute nacht?«
JA.
»Und das mit der Sense klappt?«
KOMMT DARAUF AN. DIE CHANCEN STEHEN EINS ZU EINER MILLION.
»Oh.« Frau Flinkwert dachte nach. »Also hast du den Rest des Tages frei, oder?«
JA?
»Dann kannst du damit beginnen, die Ernte einzubringen.«
WAS?
»Dann bist du wenigstens beschäftigt. Die Arbeit bringt dich auf andere Gedanken. Außerdem bezahle ich dir sechs Cent die Woche. Und sechs Cent sind sechs Cent.«
Zufälligerweise wohnte Frau Kuchen in der Ulmenstraße. Windle klopfte an.
Nach einer Weile erklang eine dumpfe Stimme: »Ist da jemand?«
»Klopf einmal für ›ja‹«, schlug Schleppel vor.
Windle öffnete die Klappe des Briefschlitzes.
»Hallo? Frau Kuchen?«
Die Tür flog auf.
Und Windle stellte fest, daß er sich Frau Kuchen anders vorgestellt hatte. Sie war… üppig, aber nicht in dem Sinne von dick. Bei ihrer Gestalt mußte man nur etwas großzügigere Maßstäbe anlegen: Solche Leute gehen gebückt durchs Leben und haben immer eine Entschuldigung auf den Lippen, falls sie einmal unbeabsichtigt aufragen. Außerdem hatte Frau Kuchen prächtiges Haar. Es krönte ihr Haupt und fiel einem Umhang gleich über die Schultern. Hinzu kamen spitz zulaufende Ohren und Zähne, die zwar weiß und makellos waren, doch das Licht auf eine irgendwie beunruhigende Weise reflektierten. Es erstaunte Windle, wie schnell seine weitaus sensibleren Zombie-Sinne zu einem bestimmten Schluß gelangten. Er senkte den Blick.
Lupine saß kerzengerade und war viel zu aufgeregt, um auch nur mit dem Schwanz zu wedeln.
»Ich glaube nicht, daß du Frau Kuchen bist«, sagte Windle.
»Du möchtest sicherlich zu meiner Mutter«, erwiderte die hochgewachsene junge Frau. »Mutter! Besuch für dich!«
Aus fernem Gemurmel wurde nahes Gemurmel, und dann erschien Frau Kuchen neben ihrer Tochter, wie ein kleiner Mond, der aus dem Schatten des Planeten glitt.
»Was willst du?« fragte sie.
Windle wich einen Schritt zurück. Im Gegensatz zu ihrer Tochter war Frau Kuchen recht klein und fast völlig rund. Da gab es noch einen weiteren Unterschied: Fräulein Kuchen versuchte immerzu, kleiner zu wirken, und Frau Kuchen bemühte sich um das exakte Gegenteil. Sie trachtete energisch danach, größer zu sein. Zum Beispiel trug sie mit der gleichen Hingabe wie ein Zauberer einen enormen Hut. Daran waren diverse Dinge befestigt: Vogelfedern, wächserne Kirschen und Hutnadeln – Carmen Miranda hätte einen solchen Hut bei der Bestattung eines Kontinents tragen können. Frau Kuchen hing darunter wie der Korb unter einem Heißluftballon. Viele Leute neigten dazu, bei Gesprächen mit Frau Kuchen ihre Worte an den Hut zu richten.
»Frau Kuchen?« fragte Windle fasziniert.
»Hich bin hier unten«, erklang eine Stimme, die sich offenbar bemühte, gleichzeitig würde- und vorwurfsvoll zu klingen.
Windle senkte den Kopf.
»Ja,
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