Alles Sense
Stirn des Mädchens mit dem Handtuch ab.
»Wo hast du sie entdeckt?«
SIE VERSTECKTE SICH IM SCHRANK.
»Und dort hoffte sie, vor dem Feuer geschützt zu sein?«
Bill Tür zuckte mit den Schultern.
»Wie hast du sie in dem Durcheinander aus Flammen und Rauch gefunden?«
VIELLEICHT KANN MAN IN DIESEM ZUSAMMENHANG VON EINER BESONDEREN FÄHIGKEIT SPRECHEN.
»Und sie hat nicht einmal einen Kratzer.«
Bill Tür ignorierte den fragenden Ton in Frau Flinkwerts Stimme.
HAST DU JEMANDEN GESCHICKT, UM DEN APOTHEKER ZU HOLEN?
»Ja.«
ER DARF NICHTS WEGNEHMEN.
»Wie meinst du das?«
BLEIB HIER, WENN ER KOMMT. AUS DIESEM ZIMMER DARF KEIN OBJEKT ENTFERNT WERDEN.
»Das ist doch Unsinn. Warum sollte dem Apotheker daran gelegen sein, irgend etwas mitzunehmen? Hier gibt es doch nichts von Interesse für ihn, oder?«
ES IST SEHR WICHTIG. UND JETZT MUSS ICH GEHEN.
»Wohin?«
ZUR SCHEUNE. ES GILT, GEWISSE DINGE ZU ERLEDIGEN. ES BLEIBT NICHT MEHR VIEL ZEIT.
Frau Flinkwert sah zu dem Mädchen, das reglos auf ihrem Bett lag. Sie hatte das Gefühl, den Boden unter den Füßen zu verlieren, geistig mitten im Nichts zu schweben.
»Das Kind scheint zu schlafen«, sagte sie. »Und doch… Irgend etwas stimmt nicht.«
Bill Tür blieb vor der Treppe stehen.
ES LEBT VON GELIEHENER ZEIT, erklärte er.
Hinter der Scheune stand eine alte Schmiede, die seit Jahren nicht mehr benutzt worden war. Doch jetzt strömte rotes und gelbes Licht auf den Hof, pulsierte wie ein Herz.
Der Vergleich mit dem Herzen erschien durchaus angemessen, denn es ertönte auch rhythmisches Hämmern. Und bei jedem Hämmern blitzte es blau.
Frau Flinkwert trat durch die geöffnete Tür. Wenn sie bereit gewesen wäre, in irgendeiner Hinsicht Eide abzulegen, so hätte sie nun geschworen, daß sie überhaupt keine Geräusche verursachte – zumindest keine Geräusche, die trotz des prasselnden Feuers und des lauten Klopfens gehört werden konnten. Trotzdem wirbelte Bill Tür herum, duckte sich und hob eine gewölbte Klinge.
»Ich bin’s!«
Er entspannte sich. Besser gesagt: Er war ein wenig weniger angespannt.
»Was machst du hier?«
Er blickte so auf die Klinge in seinen Händen, als sähe er sie jetzt zum erstenmal.
ICH MÖCHTE DIESE SENSE SCHÄRFEN, FRAU FLINKWERT.
»Um ein Uhr früh?«
Er starrte auf das Metall.
OB FRÜH ODER SPÄT – DAS DING BLEIBT STUMPF.
Plötzlich schmetterte er die Sense auf den Amboß.
ICH KANN SIE EINFACH NICHT GENUG SCHÄRFEN!
»Ich fürchte, die Hitze ist dir zu Kopf gestiegen«, sagte Frau Flinkwert und griff nach dem Arm ihres Gehilfen.
»Mir scheint, die Sense ist scharf genug…«, begann sie – und zögerte. Ihre Finger tasteten über den Arm, wichen kurz zurück und faßten dann wieder zu.
Bill Tür schauderte.
Frau Flinkwert zögerte nicht lange. In den vergangenen fünfundsiebzig Jahren hatte sie es mit Kriegen, Hungersnöten, zahllosen kranken Tieren, einigen Epidemien und Tausenden von alltäglichen Tragödien zu tun bekommen. Ein deprimiertes Skelett belegte nicht einmal einen der ersten zehn Plätze auf ihrer Liste schlimmer Dinge.
»Du bist es also«, meinte sie.
FRAU FLINKWERT, ICH…
»Ich habe immer gewußt, daß du eines Tages kommen würdest.«
ICH GLAUBE, VIELLEICHT…
»Weißt du, ich habe jahrelang auf einen Ritter mit weißem Roß gewartet.« Die alte Dame lächelte. »Wer hätte gedacht, daß mein Wunsch ausgerechnet auf diese Weise in Erfüllung geht?«
Bill Tür setzte sich auf den Amboß.
»Der Apotheker hat das Mädchen inzwischen untersucht«, fuhr Frau Flinkwert fort. »Er meinte, mit Sal sei soweit alles in Ordnung. Er konnte ihr nicht helfen, war nicht einmal imstande, sie zu wecken. Meine Güte, es hat eine Ewigkeit gedauert, bis es uns gelang, ihre verkrampfte Hand zu öffnen.«
ICH HABE EXTRA DARAUF HINGEWIESEN, DASS NICHTS ENTFERNT WERDEN DARF!
»Keine Sorge. Wir haben ihr das Ding nicht weggenommen. Ihre Finger sind nach wie vor fest darum geschlossen.«
GUT.
»Was hat es damit auf sich?«
ES IST MEINE ZEIT.
»Wie bitte?«
MEINE ZEIT. DIE ZEIT MEINES LEBENS.
»Das Etwas sieht aus wie eine Uhr für sehr teure Eier.«
Bill Tür wirkte überrascht. JA. SO KÖNNTE MAN ES BESCHREIBEN. ICH HABE DEM MÄDCHEN EINEN TEIL MEINER ZEIT GEGEBEN.
»Wieso brauchst ausgerechnet du Zeit?«
JEDES LEBENDE WESEN BRAUCHT ZEIT. UND WENN DIE ZEIT ZU ENDE GEHT, SO KOMMT DER TOD. DAS MÄDCHEN STIRBT, WENN SEINE ZEIT VERSTRICHEN IST. UND DAS GILT AUCH FÜR MICH. WIR STERBEN
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