Alles Sense
Hand, und Frau Flinkwert wölbte die Brauen. Zwischen den Fingern ihres Gehilfen ruhte ein goldenes Stundenglas, und die obere Hälfte war fast leer. Das Gefäß schimmerte auf eine Weise, die es menschlichen Augen nicht erlaubte, Einzelheiten zu erkennen.
»Wieso kannst du das in der Hand halten? Es befindet sich oben. Ich meine, es befand sich… Das Mädchen hielt den Gegenstand fest wie…« Sie gestikulierte. »Wie etwas, das man sehr fest hält.«
ES HAT DIE LEBENSUHR NACH WIE VOR. UND GLEICHZEITIG IST SIE HIER. UND ÜBERALL. SIE STELLT DOCH NUR EINE METAPHER DAR.
»Das Ding in Sals Hand scheint tatsächlich zu existieren.«
WENN MAN ETWAS ALS METAPHER BEZEICHNET, SO BEKOMMT ES DADURCH KEINE GERINGERE REALITÄT.
Frau Flinkwert hörte ein leises Echo in der Stimme: Zwei verschiedene Personen schienen die Worte fast synchron zu sprechen.
»Wieviel Zeit bleibt dir noch?«
EINIGE STUNDEN.
»Und die Sense?«
ICH HABE DEM SCHMIED STRIKTE ANWEISUNGEN GEGEBEN.
Frau Flinkwert runzelte die Stirn. »Nun, der junge Simnel ist kein übler Bursche, aber bist du sicher, daß er sich an deine Instruktion hält?«
MIR BLIEB KEINE WAHL. DER KLEINE OFEN HIER GENÜGT NICHT.
»Die Sense ist enorm scharf.«
ABER VIELLEICHT NICHT SCHARF GENUG.
»Und mit so einem Trick hat man es nie dir gegenüber versucht?«
BEI DEN MENSCHEN GIBT ES EINE REDENSART: MAN KANN NICHTS INS JENSEITS MITNEHMEN.
»Ja, das stimmt.«
WIE VIELE LEUTE HABEN WIRKLICH DARAN GEGLAUBT?
»Ich habe einmal von heidnischen Königen in der Wüste gelesen«, entsann sich Frau Flinkwert. »Sie bauten Pyramiden und brachten allerlei Kram in ihnen unter. Sogar Boote. Und den einen oder anderen Kochtopfdeckel. Willst du etwa sagen, daß sich all jene Leute falsche Vorstellungen vom, äh, Leben nach dem Tod machten?«
ICH WEISS NICHT GENAU, WAS RICHTIG ODER FALSCH IST, erwiderte Bill Tür. ICH WEISS NICHT EINMAL, OB ES SO ETWAS WIE »RICHTIG« UND »FALSCH« GIBT. ICH KENNE NUR STANDPUNKTE.
»Oh, es gibt Richtiges und Falsches«, sagte Frau Flinkwert in einem Tonfall, der jeden Zweifel ausschloß. »Bei meiner Erziehung hat man sehr darauf geachtet, daß ich den Unterschied erkenne.«
HAT DIR DEIN VATER BEIGEBRACHT, ZWISCHEN RICHTIG UND FALSCH ZU UNTERSCHEIDEN?
»Ja.«
ABER DEIN VATER HANDELTE MIT KONTERBANDE.
»Wie bitte?«
ER SCHMUGGELTE.
»Der Schmuggel ist ein durchaus ehrenwertes Geschäft!«
ICH WOLLTE NUR DARAUF HINWEISEN, DASS MANCHE LEUTE ANDERS DARÜBER DENKEN.
»Und wenn schon. Auf jene Leute kommt es nicht an.«
ABER…
Über dem Hügel zuckte ein Blitz, und lautes Donnern ließ das Haus erzittern. Ziegelsteinsplitter vom Schornstein fielen in den Kamin. Etwas hämmerte an die Fenster.
Bill schritt zur Tür und öffnete sie.
Hühnereigroße Hagelkörner tanzten über die Schwelle.
OH. DRAMA.
»Zum Teufel auch!«
Frau Flinkwert duckte sich unter dem Arm ihres Gehilfen.
»Woher kommt nur der Wind?«
VOM HIMMEL? fragte Bill und wunderte sich über seine Aufregung.
»Komm!« Die alte Dame eilte in die Küche zurück, tastete auf der Kommode nach Laterne und Streichhölzern.
DU HAST DOCH GESAGT, DASS DIE GARBEN WIEDER TROCKNEN.
»Ja, nach einem normalen Gewitter. Aber dies Gewitter ist alles andere als normal. Es könnte die Ernte ruinieren und sie über den ganzen Hügel verteilen!«
Frau Flinkwert entzündete die Kerze in der Laterne und hastete zur Tür.
Bill starrte nach draußen. Stroh wirbelte vorbei, von den Böen fortgezerrt.
MEINE ERNTE KÖNNTE RUINIERT WERDEN? Er straffte sich. DAS LASSE ICH NICHT ZU.
Der Hagel trommelte aufs Dach der Schmiede.
Ned Simnel betätigte den Blasebalg des Ofens, bis die Kohlen weiß und nur noch mit der Andeutung von Gelb glühten.
Hinter ihm lag ein guter Tag. Der Mäherunddrescher hatte noch besser als erwartet funktioniert, und der alte Pietburg bestand darauf, die Maschine zu behalten, um sie am nächsten Tag auf einem anderen Feld auszuprobieren. Sie stand neben dem Schuppen, unter einer sorgfältig festgezurrten Plane. Morgen wollte Simnel jemandem zeigen, wie man mit dem Apparat umging, um anschließend mit der Arbeit an einem verbesserten Modell zu beginnen. Der Erfolg stand bereits fest. Ja, die Zukunft begann jetzt.
Und dann die Sache mit der Sense… Sie hing jetzt an der Wand, und Ned näherte sich ihr. Seltsam. Nie zuvor war ihm ein besseres Instrument dieser Art unter die Augen gekommen. Man konnte die Klinge nicht einmal stumpf werden lassen. Ihre Schärfe reichte
Weitere Kostenlose Bücher