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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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Und eine halbe Stunde später im Taxi auf dem Weg zur Bahnstation von East Croydon war Sally in ihrer Wagenecke in Tränen ausgebrochen. Es war Sallys letztes Weinen gewesen bis zum Vortag, bis zu Pomossels Begräbnis.
    »Auf mich macht Mamas Zustand zunehmend einen erschütternden Eindruck«, sagte Sally betroffen.
    »Sie wirkt aber nicht, als finde sie ihr Leben besonders übel«, sagte Alice. »Sie hat während der Stunde, die ich bei ihr war, mehr gelacht als ich.«
    Doch Sally spürte das ganze Gewicht von Risas altersbedingten Unzulänglichkeiten.
    »Das Altern ist nichts für Feiglinge«, sagte sie. »Ein englisches Sprichwort. Kann sein, die Russen sagen dasselbe.«
    »Ich sehe weit und breit keine Feiglinge«, sagte Alice.
    »Da täusch dich mal nicht«, antwortete Sally. »Und jetzt frage ich noch einmal, und bitte, aus Interesse, wirklich nur aus Interesse, nicht aus eingebildeter Vormundspflicht: Geht bei dir etwas vorwärts?«
    »Ich habe einen neuen Freund.«
    »Schön zu hören. Ich wollte aber eher die strittige Angelegenheit deiner näheren Zukunft klären.«
    Auf diesem Ohr war Alice taub.
    »Er ist Schotte und sehr interessant«, sagte sie.
    »Was meinst du mit interessant ?« fragte Sally.
    »Er hat was. Oder wie immer man das nennen will.«
    »Da hätte ich jetzt auch alleine draufkommen können. Vielleicht willst du mir erläutern, inwiefern dein Interesse auf Qualitäten beruht.«
    Alice erwiderte nichts. Entweder sie konnte oder sie wollte es nicht näher begründen. Also kam Sally nochmals auf das ursprüngliche Thema zurück, die berufliche Zukunft. Jetzt formulierte Alice immerhin einige vage Erwartungen, für die zwar nicht die geringste Basis zu erkennen war, aber egal, es waren Pläne. Und etwas an diesen Plänen hielt Sally zurück, mehr zu erwidern als allgemein gehaltene Empfehlungen, von wegen Theorie und Praxis, Grundbedingung sei die Anerkennung der Fakten und so weiter, und so weiter.
    »Und du bist mein leuchtendes Vorbild«, sagte Alice süffisant.
    »Ich möchte dir zumindest nahelegen, nichts zu tun, was ich nicht auch tun würde.«
    »Das lässt mir ausreichend Spielraum.«
    In diesem Moment vermisste Sally ihre Tochter, das mochte mehr mit der aktuellen Stimmung zu tun haben als mit etwas anderem. Sie erinnerte sich, als Alice klein war, hatte sie den Gedanken, dass Alice eines Tages weggehen würde, als sehr schmerzhaft empfunden, wiewohl in der Realität, als Alice gegangen war, der Schmerz sich in Grenzen hielt. Sally sah Alice als Kleinkind neben sich im Bett, ihren kleinen, warmen Körper, angeschmiegt, hell und unabhängig,beim Versuch, Sally aus dem Bett zu stoßen. Damals hatte Sally gedacht, dieses Kind ist das Beste, was mir passieren konnte, selbst dann, wenn wir später Probleme miteinander haben sollten.
    Nach einer Pause sagte Sally versöhnlich:
    »Du wirst das schon schaukeln, Alice. Ja, ich denke, du wirst das schon schaukeln. Weißt du, ich bin stolz auf dich.«
    Funkstille.
    »Das ist nett von dir, Mama, auch wenn ich es dir nicht glaube.«
    Abermals Funkstille. Die Art, wie sich Sally wegen Alice fühlte, war tatsächlich meistens vergleichbar mit einem Stein im Schuh.
    »Solltest du aber«, sagte Sally nach reiflicher Überlegung.
    »Ich werde es versuchen.«
    So beendeten sie das Gespräch, und Sally ging nach unten, um in alle Zimmer hineinzurufen, Alice lasse liebe Grüße ausrichten. Emma bedankte sich, von Alfred keine Antwort. Sally setzte ihren Weg nach unten fort, sie steuerte die Küche an, Alfred folgte von oben, vermutlich aus dem ehelichen Schlafzimmer heraus. Er trug in beiden Händen Bildbände, die arabisches Holzhandwerk beschrieben. In seinen Hausschlapfen stakste er schwerfällig und doch geschwind die Treppe herunter.
    »Warte einen Moment!« rief er. Sally öffnete bereits die Küchentür. Und etwas in Alfred – der unversehrte Kern seiner Liebe zu ihr – löste sich unvermittelt, eilte die Treppe hinunter ihm voraus, durch drei Jahrzehnte hindurch, hinterSally her. Es war nur ein kleiner Kern, der aus ihm heraustrat, aber von großer Masse und schwer genug, dass Alfred aus dem Gleichgewicht geriet. Er setzte den nächsten Schritt ohne die gebotene Sorgfalt, sein linker Pantoffel blieb an der Stufenkante hängen, Alfred balancierte noch einen Moment, dann schleuderte er die Bildbände von sich, zu spät, jetzt ging es holterdiepolter das letzte Stück hinunter mit einem entsetzten Ruf zwischen Ah und Oh , Landung auf dem

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