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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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Alices zuckenden Rücken. »Huh-huh, du hast keine Depressionen, man nennt das Verstimmung.«
    »Es ist doch nicht nur das Gesicht!« rief Alice. Sie wälzte sich mit Wucht herum und präsentierte sich jetzt auf dem Rücken.
    »Ist das nicht schrecklich!?«
    Im Bereich ihrer Scham hatte sie von der Rasur zwei Dutzend Entzündungen, vor dem Nachwachsen der kleinen Haarschafte waren Bakterien eingedrungen, von der Reizung oder vom Eiter waren die Haarfollikel aufgeworfen, der Schweiß, den Alice nicht nur jahreszeitlich, sondern auch altersbedingt absonderte, als unbewusstes Signal an die Welt, dass sie jung und gebärfähig war, fachte die Entzündungen zusätzlich an. Sie kratzte sich.
    »Nicht kratzen!« rief Sally.
    »Es juckt wie die Hölle!«
    »Kratzen macht es nur schlimmer. Du musst beim nächsten Mal Enthaarungscreme verwenden.«
    »Vertrage ich auch nicht.«
    »Dann lass halt in Gottes Namen wachsen, was wachsen will.«
    Die Augäpfel von Alice drehten sich der Mutter zu, sie blickte fassungslos, verächtlich durch ihre Tränenfenster, als wohnte sie gerade der Verkündigung einer mittelalterlichen Irrlehre bei. Sie schüttelte weinend den Kopf.
    »Den Männern, denen du gefällst, wird es hoffentlich zumutbar sein, dass sie ein Schamhaar zu sehen bekommen«, mutmaßte Sally.
    »Mama, das ist völlig ausgeschlossen, die bekämen einen Herzinfarkt!«
    »Bitte, was?« fragte Sally, sie war mit den sexuellen Vorlieben junger Männer nicht ausreichend vertraut und fand es schockierend, dass eine intelligente, mit Zugang zu Bildung versehene junge Frau im einundzwanzigsten Jahrhundert auf derlei Empfindlichkeiten Rücksicht nahm.
    »Du hast schon richtig gehört«, sagte Alice.
    »Diese Bürschlein sind hoffentlich nicht aus Klorollen, dass sie von so etwas auseinanderfallen.«
    »Es kommt nicht in Frage, Mama«, bekräftigte Alice, und ihr Gesicht war von diesem Gedanken so fiebrig übergossen, dass die Rötungen jetzt regelrecht leuchteten. Was für ein Unglückswurm.
    Auf ihre Art war Alice ein einsamer Mensch, einsamer als Emma, von der niemand wusste, ob sie auf dieser Welt Verbündete hatte außer ihren Eltern und der einen Freundin, die Emma seit ihrem fünften Lebensjahr kannte und die sich grad verlobt hatte, so dass sich Emma – im besten Fall – an einen Platz in der zweiten Reihe gewöhnenmusste. Alice wurde zwar ständig von zahllosen Satelliten umkreist, aber die meisten blieben namenlos. Bekam einer doch einen Namen und man sprach den Namen nach einigen Wochen aus, war Alice erstaunt, als habe sie bereits vergessen, dass es diesen Mann gegeben hat. Einer war kurz nach dem Kennenlernen bei einem Raftingunfall ums Leben gekommen, von ihm behauptete sie, er sei die Liebe ihres Lebens gewesen. Sally nahm es als Beweis dafür, dass die Fähigkeit zum Selbstbetrug den Menschen aufrecht hält. Alices Lügen waren andere Lügen als Emmas Lügen. Emma redete Unsinn, Alice betrog sich selbst. Alice war die wahre Naive in der Familie, denn im Gegensatz zu Emma war Alice nicht frei und schien trotzdem zu meinen, es zu sein. Diese Schlampigkeit des Denkens rührte daher, dass sie eitel war, sie lebte von Bewunderung und konnte ohne Bewunderung nicht existieren, andere Erfolgserlebnisse hatte sie selten vorzuweisen, das machte sie empfänglich für Lebensentwürfe der kurzfristigen Art. Sie identifizierte sich weder mit dem, was war, noch mit dem, was zu werden schien, gleichzeitig hatte sie keine sonderliche Vorstellung davon, was ihrer Meinung nach werden sollte. Zwar besaß sie die Hoffnung auf ein schönes Leben, aber das hatte mehr mit Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft zu tun als mit einem Glauben daran. Für Alice war die Zukunft nicht schwarz wie in Sallys Jugend, sondern klein und eng. Das erklärte, warum sie sich trotz ihres Gripses lieber treiben ließ.
    Nach einem kurzen traurigen Frösteln drehte sich Alice zurück auf den Bauch, sie wischte ihre Tränen ins Kissen, sie hatte sich ein wenig beruhigt, und der helle Oberflächenglanzverbarg wieder ziemlich gut die darunter tobenden Dämonen.
    »Ich gehe frühstücken. Kommst du auch?« fragte Sally versöhnlich. »Anschließend male ich dein Zimmer aus. Wenn frische Farbe an den Wänden ist, du wirst sehen, dann ist die Welt gleich ein bisschen lichter.«
    Alice presste die Lippen aufeinander, im rechten Mundwinkel machte sich nochmals das Zucken eines Muskels bemerkbar.
    »Meinetwegen«, sagte sie mit einem Stöhnen und krabbelte aus ihren

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