Alles über Sally
Schulschluss, sie hoffe, dass sie diesen Stress bald wieder loswerde.
Ob sie jetzt aufrüsten würden, wollte Pomossel wissen.
Eigentlich bräuchten sie kein Haus der Widerstandsklasse1A mit Alarmanlage und fünffachen Sicherheitsschlössern, das stehe in keinem Verhältnis zum Verlust, den sie erlitten hätten, oder zu dem, was noch gestohlen werden könnte. Aber es sei ein Versuch, das Trauma zu bewältigen und sich vor einer Wiederholung des Traumas zu schützen. Sie selber habe gewisse Sicherheitsvorkehrungen im Kopf , und obwohl sie schon als Kind gut darin gewesen sei, sich zwischen Unsicherheiten zu bewegen, habe sie in dieser Hinsicht noch zulegen können. Alfred hingegen gehe diese Fähigkeit vollständig ab, deshalb seien die Ausgaben, schätze sie mal, gerechtfertigt. Bedauerlicherweise komme in dieser Situation ihre natürliche Anlage zum Faulsein zu kurz. Es sei arg, sie werde regelrecht nostalgisch für die profane Welt von: Frau Professor Fink, er hat meiner Mutter einen sehr, sehr schlechten Namen gegeben! – Stimmt nicht, er hat angefangen, er hat meine Mutter zuerst beleidigt! So ärgerlich diese Dinge im Unterricht seien, so sympathisch wirkten sie im Kontrast zu dem, was Sally im Moment gerade über sich ergehen lassen müsse.
Pomossel dachte einige Augenblicke nach. Sally hatte oft das Gefühl, er befinde sich in Reichweite von etwas Wichtigem und könne es ihr sagen und sage dann aus Versehen etwas Harmloses. Wie auch jetzt, in seinem gelassen verbindlichen Ton.
»Vielleicht müsst ihr euch der Betteln-Sie-beim-Nachbarn-Praxis anschließen. Mir ist aufgefallen, eine große Zahl von Leuten hat diese Schilder. Bei denen, die darauf verzichten, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie unwillkommenen Besuch erhalten, natürlich höher.«
»Wir geben Schritt für Schritt nach«, sagte Sally auflachend.»Aber so spießig sind wir noch nicht. Vielleicht in zwei oder drei Jahren.«
Nach einem kurzen Zögern entschloss sich Pomossel, ebenfalls zu lachen, er lachte ganz tief in der Kehle, dann hörte er wieder auf. Er erkundigte sich nach Sallys Wünschen für die Stundenplangestaltung. Sie sagte, wie gehabt, Mittwoch oder Donnerstag frei. Bei ihm? Der Gerichtstermin sei erst im Oktober, er hoffe trotzdem, dass es auch für ihn einen Stundenplan geben werde. Hauptsache, so wenig Fensterstunden wie möglich.
Das war’s dann. Fanni, die neunjährige Tochter der Aulichs, kam mit ihrem Köfferchen in den Garten gerannt. Pomossel verabschiedete sich umständlich, indem er sich gleichzeitig das Hemd in die Hose stopfte, er sagte, er müsse zu seiner nächsten Würmer-Kundschaft.
Mit einem blicklosen Hallo! strebte Fanni ins Haus, wo sie nach Emma schrie. Nadja und Erik beabsichtigten, das Wochenende in der Südsteiermark zu verbringen, es war ausgemacht, dass Fanni während dieser Zeit Ferien bei Emma machte.
Auch Erik bog um die Ecke. Als Sally ihn sah, wurde ihr Herz fast hörbar. Sie wechselte einen Blick mit ihm, vergeblich bemühte sie sich um einen gelassenen Gesichtsausdruck. Barfuss ging sie über den weichen, leicht abfallenden Rasen. Die Haare, die sie herumwarf, waren noch nass. Und als sie sich ihres Schlenderns bewusst wurde und der Tatsache, dass sie glücklich war, begriff sie, dass sich ein Wandel vollzogen hatte. Es fühlte sich an, als hätte sie in diesem Moment eine innere Grenze überschritten, hinüber ins Reich der ungenutzten Möglichkeiten.
Erik griff ihr bei der Begrüßung an den Hintern, ganz flüchtig. Ihre Hand in seinem Rücken wanderte höher als nötig, zog sich jedoch schnell wieder zurück – eine dieser schülerhaften Annäherungen, die es seit Jahren gelegentlich gegeben hatte und die immer unter Flirten abgetan werden konnten, ganz ohne etwas dahinter. Diesmal war es anders. Diesmal klafften die Gesten zwischen vorher und nachher wie eine Zäsur.
Sally ordnete ihre Gesichtszüge, im Übergang entstand eine Grimasse, als hätte gerade jemand etwas Peinliches gesagt.
Der Garten war still, die Luft hatte schon etwas Abendliches. Auf den Dächern der Nachbarhäuser flimmerte das Licht, eine Amsel kam auf den Rasen. Ein bisschen blieb die Zeit stehen, weil sich ein Raum aufgetan hatte, für einige Sekunden, nur für Sally und Erik. Sally stand mittendrin, als Emma herausstürmte, Fanni in ihrem Gefolge, Fanni hatte eine große Chrysantheme im Haar, die ihr Emma hineingetan hatte. Sally wollte in dem Raum bleiben, musste aber wieder hinaus, hin und her, raus und rein.
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