Alles über Sally
begreifen, was »typisch Frau« sei, um sich selber besser einschätzen zu können, das würde bestimmt manches erklären.
Unter der Dusche erinnerte sich Sally, dass sie als Mädchen lieber ein Bub gewesen wäre. Ihre Töchter wären erstaunt, wenn sie davon hören würden, egal, es war so, das vergisst Sally nicht so schnell. Buben durften alles und mussten nicht brav sein. Den Mädchen wurde zwar vorgegaukelt, sie dürften ebenfalls alles, aber wenn es darauf ankam, hieß es, nein, das geht nicht, auf keinen Fall. Wenn Sally erwiderte, der Soundso macht es auch, wurde argumentiert, er sei ein Bub, das gelte nur für ihn. So kompliziert war das damals. Außerdem mussten Buben nicht so blöde Röcke tragen, und später durften sie bei den Mädchen anrufen, aber als Mädchen durfte man denen nicht hinterherlaufen. Wer wollte sich da auskennen, außer vielleicht die Buben? Für die Buben war das Leben einfacher, sie mussten viel weniger denken, sie durften ohnehin fast alles.
Im wohligen Schoß des warmen Dampfs seifte sich Sally ein, schnaubend rieb sie sich das Gesicht ab, es lösten sich kleine Hautschuppen, wie Glimmer glitten sie mit dem Wasser hinab und strudelten in den Abfluss, Nahrung für die Krebse. Und jetzt die Achselhöhlen, sommerlich kahl, Sallys flache Hände rieben über ihren Körper, über die Seiten, über die Sektionarbe, die dunkle Bucht des Nabels und über die Arme. An den Oberarmen saß die Haut schon lose, aber darunter glitten sichtbare Muskeln. Sally betrieb Sport, sie ging laufen, es war ein langsamerStellungskrieg gegen die Schwerkraft der Verhältnisse, eine zähe Schlacht, bei der nichts gewonnen, aber viel verteidigt wurde: Sie wollte langsamer verlieren als andere. Sally war weiterhin schlank und kräftig, aber klar, trotz einiger Echos ihrer früheren Schönheit war es nicht mehr ganz so zwingend, dass man diesen Körper gesehen haben musste. Sally war eindeutig nicht mehr jung, an diesem Julitag, mit diesem Julikörper, Hälfte des Lebens. Sie atmete den Geruch des Wassers ein, den Geruch von französischer Seife, der Schaum strudelte über dem Abfluss. Sally war mit dem Duschen so gut wie fertig, als Emma zum Türspalt hereinrief, Pomossel bringe Futter für die Schildkröten.
»Sag ihm, er soll warten, ich komme gleich«, rief Sally zurück.
Sie spülte die Wanne aus. Ihre Haut kribbelte nach dem Abtrocknen. Sie schlüpfte in frische Kleider, dann rieb sie ihre Füße an den Stellen des Fliesenbodens, wo das Passionsblumenöl weiterhin seinen Geruch ausatmete.
Pomossel hieß mit Vornamen Maxim, ein jüngerer Kollege, von dem Sally die Schildkröten bekommen hatte, er versorgte die Tiere regelmäßig mit Lebendfutter: Mückenlarven, Wasserflöhe und Ameisenpuppen. Früher hatte die Zustellung im Konferenzzimmer stattgefunden, nur in den Ferien hatte es einen Service frei Haus gegeben. Aber seit Pomossel vom Unterricht suspendiert war, sah ihn Sally nur noch privat, diesen zugeknöpften Kauz, der seit seiner Scheidung Freundschaften gewissenhaft mied und dem man trotzdem nicht zutrauen wollte, dass er eine Siebzehnjährigein ein leeres Klassenzimmer drängte. Bei ihm fragte man sich ernsthaft: Warum? Warum sollte er das tun? Aber gut, das waren vielleicht nicht die richtigen Fragen. Und vermutlich ging es auch nicht darum, dass man ihn für klüger hielt. Denn klug war er, kein Zweifel, und als Mensch interessant. Er besaß eine trockene, humorvolle Seite, die dadurch verstärkt wurde, dass er aussah wie Stan Laurel, nur größer. Das Gehirn typisiert jeden Menschen entsprechend bestimmter Assoziationen, deshalb tat man sich schwer, jemanden, der Stan Laurel so schlagend ähnlich sah, für einen Finsterling zu halten. Das ging nicht nur Sally so. Auch die Schülerinnen und Schüler hatten Pomossel bis zu seiner Suspendierung gemocht. Er hatte einen sehr aufrechten, steifen Gang. Wenn er über den Schulhof gekommen war, hatten sie gegrinst und einander zugeflüstert: Dort schreitet der Mikado.
Vom Einbruch wusste Pomossel, weil Sally ihn am darauffolgenden Tag angerufen hatte wegen der Bierdose im Aquarium. Jetzt fragte er, wie es stehe. Sally gab bereitwillig Auskunft, sie sagte, langsam rücke alles wieder an seinen Platz, aber die Laufereien und das Drumherum reichten, einen zum Trinker werden zu lassen. Ihr Schreibtisch sei zugeschneit von Formularen und Rechnungen. Sie sei erst ein einziges Mal zum Schwimmen gekommen, sie benötige dieselben Durchhalteparolen wie zu
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