Alles über Sally
stand sie für einen weiteren Moment einfach still da, die wirren kraus wachsenden Haare über dem blassen, ungeschminkten Gesicht leuchteten in einem Sonnenkeil, sie war ruhig wie ein am Feld stehendes Tier, sehr hübsch mit ihrem jetzt absolut stillen Gesicht, dem es für Augenblicke gelang, nichts zu verraten – bis ein Lachen aus ihr herausplatzte, ein ziemlich verdächtiges Lachen, in dem ganz hinten die Unsicherheit stotterte.
Sie sagte:
»Sie hat heimlich meine Nachtcreme verwendet und ein rotes Gesicht bekommen.«
Worauf wieder das helle, von Unsicherheit und Verlegenheit kontaminierte Lachen folgte.
»Ich wüsste nicht, was es da zu lachen gibt.«
»Weil sie immer alles nimmt, ohne zu fragen«, sagte Emma. »Sie tut, als gehörte die Welt ihr.«
»Jetzt übertreib nicht.«
»Sie hat meine Zahnbürste abgebrochen.«
»Halt dich bitte an die Tatsachen«, forderte Sally. »So leicht bricht niemand eine Zahnbürste ab.«
»Alice schon.«
Sally konnte das Fink-Blut in Emmas Adern rauschen hören, ein ganz bestimmtes, ein bisschen irrsinniges Rauschen,das Emma von ihrem Vater hatte und mit dem sich Sally jetzt nicht auseinandersetzen wollte. Emma hatte schon als Kind viel und ohne Not gelogen, meistens kleine Fiktionen, die ihr Wesen Tag für Tag als Nahrung brauchte, um normal funktionieren zu können, das war halt ihre Art.
Ohne Emma weiter Beachtung zu schenken, ging Sally in Alices Zimmer. Dort herrschte strenge Verdunkelung. Sally ließ die Tür zum Flur einen Spaltbreit offen, damit der Streifen hereinfallenden Lichts den unterweltlichen Dämmer aufhellte.
Wie nicht anders zu erwarten bei dieser Hitze und angesichts des freizügigen Familienmilieus lag Alice nackt über das Bett gebreitet, am Bauch, die bloßen Fußsohlen waren zur Decke gerichtet. Den einen Ohrhörer ihres Abspielgeräts nahm Alice gnädig heraus. Sally sagte, sie könne ruhig auch den zweiten Stöpsel herausnehmen. Alice gehorchte. Dann schaute sie ihre Mutter aus harten Augen an, ohne ein Wort, keine große Überraschung, Sally war es gewohnt.
»Na, Genossin?«
»Sag nicht Genossin zu mir«, gab Alice zurück. »Du weißt, dass ich es nicht mag.«
Durch die Schnurlöcher der Jalousie fielen kleine Lichtpunkte auf Alices glatten, schimmernden, fast nicht gekörnten Rücken. Die Linie der Lichtpunkte passte sich dem geschwungenen Körper an und erfuhr eine leichte Krümmung. Die Schönheit eines Menschen, den man selber geboren hat, womit soll man diese Schönheit vergleichen? Sie gehört zu den wenigen Dingen, die sich nicht dafür eignen, mit etwas verglichen zu werden.
Sally überkam ein mütterliches Gefühl, sie setzte sich an den Rand des Bettes und sagte, sie habe sich schon Sorgen gemacht wegen der exorbitanten Schlafleistungen im Haus. Von Emma habe sie die Sache mit der Gesichtscreme erfahren. Dieses Experiment sei offenbar danebengegangen.
»Ich werde es kein zweites Mal versuchen«, sagte Alice.
»Geht es schon besser?«
»Ich hatte Angst, ich bekomme einen allergischen Schock.«
»Weil du zu viel Emergency Room schaust«, sagte Sally. »Andere wissen gar nicht, was ein allergischer Schock ist und machen sich deshalb keine Sorgen.«
Auf ihrem Matratzenfloß lag Alice dünn ausgestreckt über dem weißen Leintuch, den Kopf auf den rechten Arm gebettet im zerknitterten Kissen, die linke Hand unterm Bauch. Das stark konturierte Gesicht und die beharrlich blickenden Augen hatten etwas Anziehendes. Schluckbewegungen in der Kehle.
»So etwas hatte ich noch nie.«
»Man kann eben nicht nur Läuse, sondern auch Flöhe bekommen.«
Um sich Alice näher anzusehen, stellte Sally die Lamellen der Jalousie waagrecht, die Lichtgeschwader, die jetzt hereindrangen, erhellten Alices Gesicht. Es war von großflächigen Erythemen gezeichnet, die Augen waren ein wenig angeschwollen, vor allem die Unterlider. Alice behauptete, Emmas Creme sei mit Sicherheit verdorben, das wäre ihrer Meinung nach nicht verwunderlich. Sally bezweifeltediese Theorie, viel eher reagierte Alice auf einen Duftstoff oder ein Konservierungsmittel, irgend so etwas.
»Du wirst sehen, das vergeht so schnell, wie es gekommen ist«, sagte Sally. »Du bist ein großes Mädchen, das hältst du aus.«
Unvermittelt heulte Alice los, sie krümmte sich und schnaufte und brachte japsend hervor, es ginge ihr so schlecht, sie habe Depressionen. Die Verabredung am Abend könne sie sich an den Hut stecken.
»Huh-huh-huh«, sagte Sally und legte ihre Hand auf
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