Alles über Sally
sie das Passionsblumenöl wahrnehmen. Obwohl sie die feste, kleistrige Substanz weggeputzt hatte, breitete sich der Geruch weiterhin aus, kaum merklich und doch zählebig und dabei seltsam in seiner emotionalen Wirkung. Der Geruch zog durch das Haus wie ein offenes Nervengeflecht.
Erstaunlicherweise litt Alfred neben der Einbuße an Sicherheitsempfinden vor allem unter dem Verlust von Kleinigkeiten, zum Beispiel der Postkarte aus Buenos Aires. Diese weltlichen Dinge schienen wertvoll und wesentlich für seine Identität gewesen zu sein, als hätte ihre besondere Qualität in der Lebenszeit bestanden, die in ihnen gesteckt und die sich jetzt verflüchtigt hatte. So lastete die Schwereall dessen, was nicht mehr an seinem Platz war, doppelt auf Alfreds Schultern. Sally brachte es einerseits mit dem Zustand der Ehe in Zusammenhang, andererseits mit Alfreds Beruf. Ihre Meinung war, dass Museen einen ganz lebensfalschen Dunst erweckten, im Museum hatte sich Alfred angewöhnt, eine Sache für den Inhalt zu nehmen. Außerdem vertrat er im Museum eine Mentalität des Bewahrens, und diese Mentalität setzte sich im Privaten fort. Alfred hatte eine besondere Freude an Kontinuitäten, er mochte es, wenn Dinge eine bestimmte Bedeutung hatten, er fand es verlockend, wenn ihm etwas vertraut war oder zur Gewohnheit wurde; und natürlich kroch das ins Liebesleben. Für das Unerwartete war er überhaupt nicht mehr gerüstet. Sally hingegen jammerte, wenn alles vorhersehbar war und sich Veränderungen Wochen und Monate im Voraus ankündigen mussten, um willkommen zu sein. Diese Art Leben versetzte sie in Panik, jedenfalls von Zeit zu Zeit. Vielleicht hatte sie deshalb im Moment Alfred gegenüber wenig Geduld. Manchmal war sie drauf und dran, ihn zu hassen, aber mit Sicherheit verachtete sie ihn dafür, dass er nicht dynamischer war. Lieber hätte sie nicht auf diese Weise empfunden, aber es gelang ihr nicht, ihren Widerwillen einzudämmen. Sie dachte: Hoffentlich sagt das nicht mehr über mich aus als über ihn.
Wenn man Sally fragte, saß nicht nur Alfred hinterm Ofen, sondern auch seine Gefühle, auch seine Gefühle waren Stubenhocker. Diese Tatsache mit ihren eigenen Bedürfnissen in Einklang zu bringen war für Sally eine schwer lösbare Aufgabe. In Wahrheit brauchte sie zu diesem Mann Distanz. Er hatte sich in den vergangenen Jahrenviel zu sehr an sie gehängt, zu seinem eigenen Nachteil. Da schadete es nicht, wenn er die Schulter seiner Frau für einige Zeit losließ. Statt sich auf eigene Beine zu stellen, war er immer auf der Suche nach Brustfütterung. Nahm er es überhaupt wahr, dass er meistens allein vor dem Fernseher saß und seine varikösen Beine hochlagerte? Machte es ihm etwas aus? Und warum akzeptierte er die dumme und unproduktive Routine, die sie hatten, als etwas Normales oder gar Besonderes? Das wollte ihr nicht in den Kopf. Schon öfter hatte er zu verstehen gegeben, die Beziehung zwischen ihm und Sally sei seiner Meinung nach etwas ziemlich Herausragendes. – Wie konnten Ansichten zur selben Sache so unterschiedlich sein? Sie selber beurteilte ihre Ehe weitaus kritischer, speziell im Moment sah sie meistens nur die Mängel. Und vor allem: Sie peilte ein neues Leben an, während Alfred am alten hing.
Sein Aufenthalt im Bad dauerte eine halbe Stunde. Als er fertig war, wuchs das frische Weiß in Emmas Zimmer seiner Vollständigkeit entgegen, so dass Sally auf Alfreds Hilfe verzichten konnte. Sie entließ ihn nach unten zu seinem Tagebuch.
Mit einem Pinsel malte sie die schwer zugänglichen Stellen aus, Emma schaute ihr einige Momente dabei zu, sie stand im Türrahmen, wie aus dem Boden gewachsen, und erschreckte ihre Mutter mit einem unmotivierten Kichern. Emma schnüffelte herum, ob nichts vergessen worden war, dann tappte sie Richtung Bad, offenbar hatte sie erlauscht, dass es frei geworden war. Sally mochte dieses große und friedliche Mädchen, seine Weichheit undAnhänglichkeit. Natürlich mochte sie vor allem, dass mit Emma leicht auszukommen war.
»Vergiss nicht, dass das warme Wasser für alle reichen muss«, rief sie Emma hinterher.
Dann machte Sally am Fußboden klar Schiff, putzte gleich auch die Fenster, um sich zu beweisen, dass sie jemand war, der den Unterschied kannte zwischen sauber und dreckig; diese idiotische Phrase ihrer Großmutter und ihrer Mutter verfolgte sie schon ein Leben lang.
Draußen war es weiterhin strahlend, in den sauberen Scheiben rückte der Himmel näher heran, es war,
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