Alles über Sally
als wäre auch die äußere Haut dünner geworden. Einige Nachbarhäuser langweilten sich in der Vormittagsleere. Kurz wurde eine Veranda aufgeschreckt, ein kleiner Schluckauf, als die Tür zwei Kinder ausspuckte. Ansonsten alles ruhig, die Ruhe verlässlich wie das Abonnement der Zeitung, alles pünktlich, im vorgeschriebenen Takt, die Sonne, die Jahreszeiten, die Geburtstage, sogar die Busse, die das Viertel alle zehn Minuten mit der U-Bahn verbanden.
Auf dem Rasen trat Alfred ins Blickfeld. An die zwischen zwei Bäumen gespannte Wäscheleine hängte er ein Blatt Papier, es bewegte sich in einem Lufthauch. Nachdem sich Sally mit dem Ärmel den Schweiß ausgewischt hatte, der ihr in die Augenwinkel gelaufen war, erkannte sie, dass es die Kohlezeichnung mit den Pferden war, die Alfred zum Trocknen aufgehängt hatte. Vermutlich war er mit einem feuchten Schwamm gegen die Sirupflecken vorgegangen. Doch statt das Blatt zwischen Geschirrtüchern und Bildbänden trockenzupressen, setzte er es den Sonnenstrahlenaus. Das ohnehin stark vergilbte Papier hob sich traurig vom grünen Rasen ab.
Alfreds Leistungen im praktischen Leben waren nicht berühmt. Was soll’s. Sally sagte sich, bevor ich mich schon wieder einmische, nehme ich lieber Kurs auf das, was als nächstes ansteht: das Zimmer von Alice.
Von Alice war während zweier Wochen nur ein einziges karges Lebenszeichen nach Hause gedrungen, deshalb hatten alle schon gedacht, sie sei verlorengegangen. Vor zwei Tagen war sie aus Brüssel eingetroffen, wo sie seit Anfang des Jahres ein Praktikum absolvierte, allzu viele Erklärungen, warum sie tagelang nicht erreichbar gewesen war, gab sie nicht ab, technische Probleme. An diesem Morgen war sie die einzige, die sich noch nicht aus ihrem Zimmer herausgerührt hatte.
Sally holte den Staubsauger und polterte damit herum. Sichtbare Wirkung zeigte sich aber nur in Gestalt von Gustav, der seine horizontale Lebensweise damit begründete, dass er am Vorabend zu viel Gummibärli getrunken habe, das sei ihm erst im Bett aufgefallen, da habe es ihn ordentlich gedreht. Sally fand es immerhin gut, dass er es offen zugab und kein Geheimnis daraus machte. Er kündigte an, den Restalkohol am Punchingball abzuarbeiten.
»Weiß jemand, was mit Alice los ist?« fragte sie.
»Emma weiß es.«
»Wenn du weißt, dass Emma es weiß, wirst auch du es wissen.«
»Es geht mich nichts an, Mama«, sagte er liebenswürdig und wich geschickt einer allzu lästigen Kommandierung aus. Er hatte in letzter Zeit große Schritte nach vorngemacht, mit dem Nachteil für Sally, dass sie ihn nicht mehr so leicht um den Finger wickeln konnte. Und dass er von Zeit zu Zeit ein bisschen zu sehr war wie sie selber, fand sie ein wenig fad.
»Na, dann troll dich, du Vagabund.«
Er blickte auf, atmete, lächelte. Er hatte wenig Farbe wegen seiner Computerleidenschaft, aber seine aufsprießende Männlichkeit war attraktiv und erfrischend. Er erschien Sally sehr apollinisch, fein und schön. Emma war mehr irden, voll, dick und weich. Sie brauchte momentan viel Platz und Aufmerksamkeit und fühlte sich von Alice seit deren Eintreffen an den Rand gedrängt. Gustav fuhr sich durch sein zu langes Haar, ein Schatz voll Leichtigkeit und ohne Beschwernis. Nachdem er festgestellt hatte, dass Emma das Bad blockierte, verschwand er nach unten, von wo Sekunden später Fernsehgeräusche hörbar wurden. Da alle seine Computerspiele gestohlen waren, langweilte er sich zu Hause.
Im Bad trocknete sich Emma gerade die Füße ab, sie bückte sich so tief, dass ihre Brüste die Oberschenkel berührten. Sie richtete sich wieder auf und sah Sally überrascht an, vielleicht ein wenig misstrauisch. Nach kurzem Zögern lächelte sie mit feuchten Lippen und fuhr mit dem Abtrocknen fort, die Oberschenkel, die molligen Mädchenhüften, Hinterbacken, die gesträubten Schamhaare, die wie bei ihrer Mutter rötlich waren. Und weiter, über den normalerweise bleichen Körper, die helle Haut, ein britisches Erbe aus zweiter Hand, jetzt gerötet. Emma errötete leicht.
»Was ist mit Alice los?« fragte Sally.
Emmas unschlüssiges Dastehen oder geduldiges Warten – wer sollte das entscheiden, wusste sie es selber? – wurde gestört von einem befriedigten Lächeln, das ihr über das Gesicht huschte. Um das Lächeln zu verbergen, wischte sie sich schnell über die Nase, ehe sie in eine ausrangierte Unterhose von Sally schlüpfte. Emma war nicht sonderlich anspruchsvoll. In der weißen Unterhose
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