Alles über Sally
epidermal bedingten Elendstiefen heraus.
Der Nachmittag sah auch das Zimmer von Alice auf gutem Weg. Sally legte sich ins Zeug, um die Arbeit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Die Kinder erzeugten keine weiteren Tumulte, diese amüsante Bande. Gustav war bei einem Freund, Emma machte einen IQ-Test an Sallys altem Computer. Der Test riet ihr, sie solle mit ihrem Sprachtalent und mit ihren intuitiven Fähigkeiten etwas anfangen – sie erzählte es jedem aus purem Überschwang. Alice spottete ein bisschen, war aber schon wieder besser drauf als am Vormittag. Die Mädchen ordneten ihre Reviere, Emma ging zurück an den Computer, Alice schlug ihr Krankenlager unter dem Kirschbaum auf. Wenige Meter daneben beschäftigte sich Alfred mit dem Traufenpflaster. Er verlegte neue Platten, weil der Frost der vergangenen Jahre die alten zerbrochen hatte.
Nach einiger Zeit umgarnte ihn Alice, Papa, wäre es möglich, plinkerplinker, dass du mich in die Stadt fährst? Alfred lehnte ab. Er fragte, warum sie nicht öffentlich fahre,offenbar ging es über seinen väterlichen Horizont, dass für Alice Flecken im Gesicht schlimmer waren als zwei gebrochene Beine. Ohne Antwort zu geben, blieb sie unter ihrem Baum liegen, durch das offene Fenster drang für längere Zeit nur mehr Alfreds Stimme herauf. Sally hörte undeutlich, wie Alfred mit sich redete, mit sich und mit dem Werkzeug, das er wechselweise ermahnte und lobte für die Kooperation in seiner Hand. Je länger er sich mühte, desto öfter mischten sich Ächzlaute und Flüche unter seine Kommentare. Sally wusste, am Abend würde er steif und wund sein und Küsse brauchen für seine ebenfalls wunden Lippen, auf die er sich bei körperlicher Arbeit immer biss. Sally hatte ein Zittern in den Armen, und das Kreuz zwickte sie schon ziemlich stark. Sie hatte ihren Töchtern bereits mitgeteilt, dass das Wiedereinräumen der Zimmer die Zimmerbewohner selbst besorgen müssten, Säcke für ausgemusterte Kleidung lagen bereit.
Zwischen Emma und Alice gab es weiterhin Misstöne, leise sirrte es in der Luft wie von einem Glühdraht kurz vor dem Durchbrennen. Nachdem Emma einen zweiten IQ-Test gemacht hatte, geisterte sie als kicherndes Fliegengesumm durchs Haus, auf Sally machte sie den Eindruck, als finde sie es weiterhin unendlich komisch, dass ihre Schwester mit der Hautcreme eingefahren war. Den Garten mied sie. Sich durchzuringen, Sally zu helfen, lag ebenfalls nicht drin. Aber sie kam regelmäßig vorbei, um zu sehen, ob die Sache voranging. Wenn sie vergaß, dass jemand in der Nähe war, gab sie harmlose Schimpfwörter von sich oder murmelte halblaut Sätze wie: »Geschieht ihr ganz recht.« – Als Sally sie daran erinnerte, dass sich der Menschdurch mehr auszeichne, als nur durch die Fähigkeit zu fluchen und zu lügen, kam Emma ganz aus dem Konzept, sie trollte sich verdutzt, fast ein wenig verschüchtert: verschüchtert von sich selbst. Was in ihrem Denken passierte, was irgendwelche elektrischen Ströme dort auskochten, die einzige Zuschauerin bekam nicht viel davon mit. Emma war gut darin, sich Gedanken zu machen, ohne es zu merken, sie war wie ein erschöpfter Soldat, der schlafend marschiert. Tatsächlich behauptete sie, dass sie in langweiligen Vorlesungen einschlafe und die Mitschrift schlafend fortsetze. Stimmte das oder war es Erfindung? – Sally tendierte dazu, es zu glauben.
Mit der Innenseite ihrer Handgelenke wischte sich Sally die Schweißperlen von Stirn und Nacken, und obwohl sie gern eine Pause eingelegt hätte, fuhr sie in ihrer Beschäftigung fort, damit ihr die Farbe nicht zu dick wurde. In stillem Eifer kämpfte sie sich auf die Zielgerade, dabei dachte sie an einen Schulaufsatz, der ihr vor einigen Jahren in Emmas Deutschheft untergekommen war. Titel: Wenn ich einen Tag lang ein Mann wäre, was würde ich tun? Emma hatte den Aufsatz mit dem Hinweis begonnen, dass sie gar nicht tauschen wolle, sie sei froh, eine Frau zu sein. Aber wenn sie einen Tag lang ein Mann wäre, könnte sie einen Tag lang Frauen beobachten, beziehungsweise, sie würde gerne sich selber beobachten, einen Tag lang sich selber sehen, wie Männer sie sehen, sie glaube, das wäre gut für ihre Selbsterkenntnis. Alle ihre Freunde (welche Freunde?) hätten gesagt, sie sei nicht gut zu verstehen, nach Aussage ihrer Freunde (völlig schleierhaft) benähme sie sich nicht wie eine typische Frau. Deshalb, wenn sie füreinen Tag ein Mann sein müsste, würde sie versuchen, zu
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