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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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nicht«, beteuerte Sally.
    »Und wie du lügst.«
    »Alice, untersteh dich!«
    »Im Grunde ist es mir egal, was heißt, im Grunde, überhaupt.«
    Die beiden gingen jäh auseinander. Sally starrte auf das Glas mit der Mayonnaise, das matte Gelb und das zaghafteRot der Eiertomaten gleich daneben gaben dem Moment etwas Biederes. Dann trat Sally mit dem Fuß gegen eine offene Küchenlade, dass es nur so knallte.
    So, das habe ich wieder nötig gehabt.

 
    5
     
    Die Idee des Bewusstseins quälte Sally, seit ihr dessen Existenz in der Kindheit gedämmert war. In Menschenmengen, auf die sie in der Schule oder auf der Straße traf, war es ihr regelmäßig passiert, dass ein Staunen über die eigene Person sie befiel, so viele Menschen und dazwischen ich. Ich, das war etwas Spezielles, das nicht in mysteriösem Einklang mit der Welt stand, sondern von der Menge gesondert war, etwas, das eine ganz bestimmte Affinität mit einer ganz bestimmten physischen Erscheinung hatte, dem Körper, der den Namen Sally Kottek trug. Sally war oft verdutzt angesichts der Tatsache, dass andere über dieses merkwürdige Phänomen nicht ebenso reden wollten wie sie oder zumindest darauf hinwiesen. Wie seltsam! Denn Teil dieses Körpers war ein unsichtbares Bewusstsein, das als erwiesen gelten durfte, das man fühlen konnte, das Sally mit einem gewissen Besitzerstolz erfüllte und dessen Besitz sie gierig formulierte, auch hinsichtlich aller Bestandteile, die sonst noch dazugehörten: meine Arme, meine Augen, mein Mund, meine Füße – und dieser ebenfalls dazugehörende Teil, bei dem die Erwachsenen die Brauen hochzogen oder sich unbehaglich fühlten, wenn Sally ihn erwähnte oder ein bisschen daran herumspielte: mein Geschlecht. Das natürlich nicht Geschlecht hieß, sondern keinen Namen hatte. Auch das war Ich oder es war Nein, entsprechend der subtilen Gesetze, dass das formbaremenschliche Kind klug sein und schnell lernen muss, ob es wünscht, sich einzufügen oder hervorzutreten als eine bestimmte Person mit einem bestimmten Besitz, über den nur es allein verfügen darf und niemand sonst.
    Vielleicht plagt alle Kinder dieses Rätsel der Identität, wie flüchtig auch immer. Sally wusste es nicht. Vielleicht war nur sie schon im Vorschulalter eine Mikro-Mystikerin gewesen, reif für die Bernhards und Houellebecqs dieser Welt, um sich eintragen zu lassen in deren Zuhörerschaft. Vielleicht wirkte bei ihr die größere Verunsicherung als bei anderen Kindern, weil sie unehelich geboren und in einem abnormalen Haushalt aufgewachsen war vor über vierzig Jahren. Vielleicht hätten diese Umstände jedes Kind dazu gebracht, sich selbst zu befragen: Wer bin ich? Warum habe ich keinen Vater? Ist meine Mutter wirklich nicht ganz richtig im Kopf? Warum lebt sie in London und ich in Wien? Und was gibt es an meinem Vornamen auszusetzen? Wie muss ich diesem Namen Rechnung tragen? Welche Spuren hinterlässt er? Und die äußere Erscheinung? Was sagt sie aus? Die blasse Haut? Die rotblonden Haare? Das ausländische Outfit ?
    Aus London kamen Sendungen mit abgelegter Kleidung von den Kindern der Leute, denen Sallys Mutter den Haushalt führte. Dadurch war Sally ihren Schulfreundinnen modisch oft Jahre voraus, ohne sich dessen bewusst zu sein, sie begriff lediglich ihre Andersartigkeit. Sie hatte ein Gefühl der Fremdheit angesichts ihrer Individualität. Dieses Gefühl ging nie verloren. Zwar akzeptierte sie irgendwann die besondere Einheit, die der Zufall der menschlichen Biologie und ihrer Geburt ihr gegeben hatte. Aberdas bedeutete nicht, dass sie aufgehört hatte, darüber nachzudenken und genau zu prüfen: Wer bin ich – letztlich?
    In ihrer Kindheit dachte sie, dass sie es nicht wisse und deshalb hartnäckig nach einer Antwort suchen werde, bis sie es eines Tages herausgefunden hätte. In ihrer Jugend glaubte sie, die Antwort zu wissen. Doch dann eröffneten sich ihr neue Einsichten, und die Antwort darauf, wer Sally Kottek ist, bedurfte einer Neuinterpretation. Mit vierundzwanzig, als Sally über das Selbstvertrauen eines akademischen Grades und über eine beachtliche sexuelle Reputation verfügte, dachte sie, dass sie einen komplett geformten Körper und eine komplett geformte Persönlichkeit besitze und jetzt einen definitiven Begriff davon habe, wer sie sei. Aber die unerwarteten Herausforderungen der Zeit und des Lebens – Scheitern, Enttäuschungen, glückliche Umstände – führten zwangsläufig dazu, dass sie die Antwort alle paar Jahre

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