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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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revidieren oder wenigstens abändern musste.
    Mittlerweile glaubte sie, dass das Problem der Antwort bereits in der Frage steckte. Das Konzept eines Ichs war so flüchtig und schwer fassbar wie Phlogiston, der alchimistische Feuerstoff. Was Sally gewesen sein mochte, als sie im Alter von vier Jahren die nicht zu beantwortende Frage erstmals zu enträtseln versucht hatte, oder mit elf oder vierundzwanzig oder fünfunddreißig, war so aussagekräftig wie ein einzelnes Bild in einem anderthalbstündigen Film. Sally wandelte sich ständig, es geschah unter dem Eindruck von Erfahrungen, Orten, Lebenseinschnitten und Menschen, die ihr nahe kamen. Sie veränderte sich unter dem Eindruck des Einbruchs und unter dem Zauberstab der Verliebtheit. Nicht, dass ein Ereignis sie komplettumkrempelte, davon war keine Rede. Aber ohne Wirkung blieben diese Dinge nicht. Mary McCarthy hatte ganz richtig gesagt, es würde nichts bringen, sich zu verlieben, wenn man unberührt so bliebe, wie man war.
     
    Ein Modegeschäft hatte seinen Konkurs annonciert mit Beginn des Ausverkaufs am Freitag, das lieferte Sally den nötigen Vorwand, dass sie am Vormittag in die Stadt wollte. In Wahrheit hatte sie ihre Einkäufe schon am Vortag erledigt und in einem Schließfach abgelegt. Das waren die Kleinigkeiten, auf die es ankam, sie kannte die gefährlichen Stellen bei ihren amourösen Aktivitäten, wie sie in ihrem Zimmer den vorstehenden Balken über dem Bett kannte, an dem sie sich in der ersten Zeit zwei- oder dreimal den Kopf angeschlagen hatte.
    Schon mit dem Aufstehen war sie nervös, sie schminkte sich mit zittrigen Fingern. Alice war wieder in Brüssel, Emma bei ihrer frisch verlobten Freundin, Gustav und Alfred waren zu Hause. Alfred sagte kurz entschlossen, er wolle sie begleiten. Sally erschrak, und statt sich zu freuen und Alfred darin zu bestärken, dass er langsam wieder zu neuem Leben erwachte, erinnerte sie ihn daran, dass er a) einkaufen hasse, b) Gustav helfen wollte, die Sprenkelanlage zu reparieren, und dass sie c) direkt vom Einkaufen zum Schwimmen gehen werde. Der enorme Aufwand an menschlicher Kraft und Phantasie, der für den Sex betrieben wird, ist immer wieder erstaunlich. Am Ende fügte sich Alfred in Sallys Argumente, er sah ein, dass es klüger war, wenn er zu Hause blieb. Er wusste sogar wieder, wie man lächelt. Es war ein Aufblitzen seiner alten Fröhlichkeit, dasgenügte, dass Sally ihm nicht nur pro forma einen Kuss auf den Mund gab. Anschließend machte sie, dass sie wegkam, bevor Alfred seine Meinung wieder änderte.
    Als sie aus der U-Bahn-Station ins Freie trat, war Erik schon da. Im weichen Glitzern von Glas, Stahl, Fassadenfarbe und viel Gestein saß er in einem blauen Anzug auf den Mauerresten der Ludwigskapelle und las Zeitung. Es kam Sally vor, als wäre sie nie zuvor so froh gewesen, jemanden zu sehen. Schon bei einem kurzen Treffen Anfang der Woche war es ihr im Moment der ersten Berührung gewesen, als haste etwas von ihr weg, was in ihrem Leben nichts verloren hatte.
    Erik faltete die Zeitung. Die Begrüßung erfolgte ohne Kuss, denn sie befanden sich unmittelbar unter den Fenstern des Ministeriums. Sie entfernten sich Seite an Seite über den gepflasterten Platz, Erik rechts, Sally links, zwischendurch geschah es, dass ihre Schultern einander berührten. Erik hatte die Hände in den Hosentaschen, damit er nicht aus Versehen seinen Arm um Sallys Taille legte, er stellte Fragen, er lächelte zu ihr herüber, Sallys genitales Gehirn reagierte sofort, sie musste sich einige Meter weit zwingen, Ruhe zu bewahren. Gleichzeitig war sie erstaunt, wie kurz manchmal die Zeiteinheiten ausfallen, die von besonderer Bedeutung sind. Gemeinsam mit Erik gab es immer wieder diese Momente wie in reinster, leichter Luft.
    »Ja, ich will«, sagte sie mit einem ironischen Unterton. Gerade hörte man wieder einen hupenden Autokorso.
    Es war elf an einem eigentlich hundsgewöhnlichen Freitag, der sich kraft einer Datumssymmetrie abwechselnder Nullen und Achten zu einem inoffiziellen roten Kalendertaghochgestemmt hatte. Die Innere Stadt, der 1. Bezirk, war immer gefährdet, sich als Gegend zu präsentieren, die leicht irrsinnig ihre Schatten im Kreis schleppt. Doch an diesem Vormittag liefen die Straßen zusätzlich zu den Touristenmassen von feierlich gekleideten Menschen über, die mit ihren vor Freude geschwollenen Gesichtern die Mischung aus Zuckerbäckeratmosphäre und Seelenkloake unterstrichen. In allen Kirchen und auf

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