Alles über Sally
kurzes Jaulen hallte durch die Rohre. Anschließend kehrte sie ins Wohnzimmer zurück, um zu schauen, in welcher Gestalt die Pranke des Jahrhunderts diesmal über den Bildschirm fuhr: Klimawandel, Fanatismus, Inflation, Unlust der Menschen an der existierenden Welt.
Es gab einerseits Olympische Spiele, andererseits ein heftiges Gepolter zwischen Georgien und Russland. Sally hatte den Eindruck, die Frischvermählten dieses Tages bekamen zusätzlich zur Schnapszahl des Datums einen Krieg als Erinnerungshilfe für ihren Hochzeitstag geliefert. Gustav war betroffen. Er sagte, ihm täten die Usbeken leid. Oder waren es Osseten?
In Alfreds riesigem Sessel sah Gustav unglaublich jung aus, fast noch ein Bub, nicht so komplex und subversiv wie seine Schwestern und sein Vater. Wenn man Sally fragte, besaß Alfred eine ganze Menge weiblicher Energie.
»Wie kommt es«, fragte sie, »dass ein Krieg ausbricht und dein Vater sitzt nicht hier?«
Gustav brauchte etwas Zeit, um auf die Frage zu reagieren. Bevor er antwortete, veränderte er seine Lage im Sessel.
»Der hat heute einen schlechten Tag erwischt«, antwortete er. »Zuerst haben wir den Kopf der Sprenkelanlage endgültig ruiniert, dann hat er entdeckt, dass die Einbrecher in seine Tagebücher hineingeschmiert haben.«
Die Nachricht verursachte bei Sally ein kurzes inneres Klirren. Das Behagen des Glücks, das sie nach Hause gebracht hatte, verschwand, wie von diesem Klirren aufgescheucht. Gleichzeitig spürte Sally ein Gewicht, das auf ihren Schultern abgeladen wurde. Mit Bestürzung und einem Gefühl unerklärlicher Trauer nahm sie es als etwas Unbequemes und Lästiges wahr, als etwas, das ihre Empfindungen störte. Am liebsten hätte sie kehrtgemacht, zur Haustür raus und über alle Berge.
»Hineingeschmiert?« fragte sie. »Was hineingeschmiert?«
»Das sagt er mir nicht. Halt hineineingeschmiert. Kommentare, Schwänze, keine Ahnung. Er ist schon seit Stunden aus seinem Zimmer nicht mehr rausgekommen. Bis eben hat er seine am schlimmsten zerkratzten Platten gehört.«
»Wie ist dein Eindruck?«
»Es nimmt ihn ziemlich mit. Ich würde sagen, es hat ihn umgehauen.«
»Das ist hart, mein Gott.«
Sallys Herz pochte, zum einen aus Mitleid, zum andern aus Scham, in ihrer schuldbewussten Verwirrtheit war ihr, als hätte sie gerade einen Fehler gemacht. Sie ging hinüber zu Alfreds Zimmer, sie klopfte und schob die angelehnte Tür trotz einer ausbleibenden Antwort auf, wissend, wie sehr sich Alfred nach ihrer Gegenwart sehnte. Er saß zurückgesunken am Schreibtisch, sein Gesicht sah verändert aus, nicht nur wegen der grauen Farbe, es war der ganze Ausdruck, aus dem etwas Vertrautes verschwunden war. Die struppigen Brauen berührten einander, und die dazwischenstehenden Falten schienen von der Linie des harten Mundes auf geheimnisvolle Weise zusammengehalten, wie festgenagelt.
»Du hast wirklich ein Pech«, sagte sie.
Er nahm eines der Tagebücher, die vor ihm lagen, eines der älteren, schon sehr abgegriffen, ließ den Daumen der Rechten über das vergilbte Papier laufen, es raschelte kurz, dann warf er das Buch leicht angewidert zurück auf den Tisch. Er war so erbittert über dieses weitere Unglück, dass er schlecht zielte und um ein Haar den Becher mit den Stiften umwarf, der Becher wackelte bedrohlich.
»Mir geht’s furchtbar«, sagte er. »Ich war doch auch so schon unglücklich genug.«
Seine Worte sanken wie Steine in Sally hinein. Angesichts der skandinavisch anmutenden Schwermut, zu der Alfred seit dem Besuch im Juli neigte, wusste sie, dass sie wörtlich nehmen durfte, was er sagte. Und obwohl sie noch zu aufgewühlt war, um einen klaren Kopf zu haben, wusste sie auch, dass er jetzt ihren Beistand brauchte, sie ihn aber allein lassen musste, viel mehr allein, als sie ihn in ungezählten Nächten allein gelassen hatte. Gib alle schwarze Trübsal mir, ich esse sie auf wie der Riese bei Morgenstern. Das hätte sie sagen sollen, sagte es aber nicht. Es war keineswegs so, dass ihr der Gedanke nicht wenigstens kam. In Verbindung mit einer Umarmung hätte es eine brauchbare Reaktion abgegeben, eine Art Idealfall. Aber Idealfälle gibt’s leider auf dieser Welt nicht sehr oft.
Stattdessen sagte sie:
»Es ist unfassbar, was für Niederträchtigkeiten die Menschen begehen.«
Sie legte ihre Hand auf Alfreds linke Schulter, sie musste sich nicht extra bewusst machen, dass auch diese Geste unzulänglich war. Doch mehr ließ dieser Tag nicht zu. Sally hatte
Weitere Kostenlose Bücher