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Alles über Sally

Alles über Sally

Titel: Alles über Sally Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arno Geiger
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den anderen Mann vor Augen, sie empfand es als schmerzhaft, jetzt an ihn zu denken. Aber es war unmöglich, das Bild wegzudrängen. Auch das Bild von Erik besaß triftige Anwesenheitsrechte, so ungeschickt ist das Leben.
    »Was haben sie hineingeschrieben?« fragte sie.
    Er zuckte mit den Schultern.
    »Willst du es mir zeigen?«
    Er schüttelte finster den Kopf. Schluckbewegung.
    »Ist es schlimm?«
    Verächtliches Schnauben durch Nase und Mund.
    »Sie haben ganz schön gewütet«, sagte er schließlich.
    Sally hörte in seiner Stimme den Respekt des Geschlagenen. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, was er mit Wüten meinte.
    »Armer, armer Alfred.«
    »Ich hätte etwas Besseres verdient.«
    »Bestimmt.«
    Aber wenn sie ehrlich war, wusste sie nicht so recht, was er eigentlich wollte und was er glaubte, verdient zu haben. Gleichzeitig geliebt und in Ruhe gelassen werden? War es das?
    »Es wird schon wieder werden, Dicker«, versuchte sie ihn zu trösten. »Dir fehlt im Moment nur der Wille, daran zu glauben.«
    »Es fällt in der Tat ein bisschen schwer, da hast du recht. Es kommt mir vor, als wäre mir jemand mir dreckigen Fingern in den Mund gefahren, jemand mit Spulwürmern unter den Nägeln und mit ansteckenden Schwären am ganzen Körper. Es fühlt sich wie eine Krankheit an, die zu etwas Chronischem führt.«
    Sally seufzte.
    »Über kurz oder lang, du wirst sehen«, sagte sie.
    Sie versuchte, ihm durch leichte Berührungen Vertrauen einzuflößen, ihn an die berechtigte Hoffnung zu erinnern, dass er bald wieder obenauf sein werde, dass sie ihn bald wieder lieben werde, so wie sie ihn am Anfang geliebt hatte und später auch immer wieder, nur jetzt nicht, da konnte sie ihm nichts vormachen. Aber sie erinnerte sich, wie sehrsie ihn geliebt hatte, und sie sah in dem großen geschlagenen Museumskurator noch immer den rotzaufziehenden Buben, der im Sägemehl der väterlichen Möbeltischlerei gespielt hatte. Und sie sah in ihm noch immer den jungen Mann, der in Kairo mit seiner Zuneigung zu ihr so hartnäckig gewesen war wie sonst keiner, sie erinnerte sich, sie sah es, nur jetzt, bitte, Alfred, musst du es alleine schaffen, das ist kein sehr netter Gedanke, ich weiß, im Moment kann ich dir keine große Hilfe sein, es ist grausam schwierig, aber was auch immer ich sagen würde, es wären Sätze aus der Welt der Glücklichen, solche Sätze willst du nicht hören.
    Sie musterte ihn, diesen großen trauernden Mann in seinem kleinen traurigen Haus. Dabei versuchte sie abzuschätzen, wie es in diesem Moment um seine Empfänglichkeit für Ratschläge stand. Sie trat zu der Obstkiste, in der die Tagebücher vorübergehend lagerten, bis Ersatz für die zertrümmerte Truhe gefunden war. In diesen fünfzig oder sechzig vollgekrakelten Bänden hatte Alfreds Häuslichkeit bis vor wenigen Stunden einen sicheren Platz besessen. Es war wie bei den Wespen, die aus grauem Papier ihre Nester bauen. Manchmal zog Sally Alfred auf, indem sie sagte, er male wieder seine Muster in den Sand. In Wahrheit jedoch beneidete sie ihn um seine Ausdauer, und es gefiel ihr, dass er in doppelter Hinsicht in seiner Biographie hauste: als jemand, der in einem bestimmten Leben herangewachsen war, und als Besitzer dieses langwierigen und langsamen Selbstporträts.
    »Ich an deiner Stelle würde die betroffenen Seiten heraustrennen, sie abschreiben und die Abschriften einkleben«, riet sie. »Hauptsache, alles ist von deiner Hand.«
    Sally konnte die Rädchen in seinem Kopf sich drehen sehen. Sie fühlte einen leichten Schwindel, als sie ihn die Brauen hochziehen und nicken sah. Und im selben Augenblick glaubte sie zu wissen, dass er keinen Verdacht hegte, sie könnte ihm gerade untreu sein.
    »Wegzaubern kann ich es nicht. Es wird wohl das Beste sein, es so zu machen, wie du sagst«, murmelte er.
    Sally fragte sich, ob ihm klar war, dass er laut geredet hatte. Er blickte auf und nickte ihr in die Augen. Ihr Gesicht war jetzt schöner als zuvor, weil sich ihre Befangenheit ein wenig gelöst hatte. Ruhig kam sie nochmals zu ihm her und berührte ihn mit der Hand im Nacken, ein leichtes, besänftigendes Tätscheln, ehe sie ihm wieder den Rücken zukehrte und hinausging. Alfred schaute auf die geschlossene Tür, und ohne es präzise in Worte kleiden zu müssen, wusste er, dass die Ehe mit Sally das einzige war, was noch die Fähigkeit besaß, seine Neugier in dieser Welt zu wecken.
    Eigentlich war er viel zu müde und abgekämpft für eine Arbeit, die

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