Alles über Sally
seine ganze Aufmerksamkeit erforderte. Deshalb stand er vom Schreibtisch auf und ging zum Fenster, wo er für eine Weile verharrte, reglos wie die Pfarrerstochter in einem englischen Roman. Mit einem leeren, trostlosen Blick starrte er in die Dunkelheit hinaus, es war, als schaute er über eine weite Fläche mit nichts als Zerstörung. Das Haus war in Ruhe getaucht. Gustav hatte vom Fernseher abgelassen und sich wie seine Mutter nach oben verzogen. Aber Alfreds vielarmige Sinne registrierten die geringsten Kleinigkeiten im Haus, das Knarren der Dielen unter Sallys Schritten zum Bad, ein Geräusch an der Tür, wo jemand einen Zettel der Pfarrgemeinde brachte oder wasauch immer. Ein Auto hielt. Warum fuhr das Auto nicht weiter? Eine Polizeisirene ertönte. Hoffentlich versteckte sich der Gauner, der davonlief, nicht ausgerechnet hier im Garten. Für einige Augenblicke schlich wieder die Angst um Alfreds Beine. Es war wie im Traum, wie schon den ganzen Tag, wie im Märchen, wenn der Wanderer damit rechnen muss, dass seine geheimsten Ängste hinter dem nächsten Baum hervorkommen. Was zum Teufel ist nur mit mir los? fragte sich Alfred. Ich glaube, ich bin vom Irrsinn nicht mehr weit entfernt, ja, wahrhaftig, ich bin vom Irrsinn nicht mehr weit entfernt. Er seufzte schwer, schob die Schulterblätter so weit nach hinten, dass es mehrmals knackte, Hand in Hand damit war zu sehen, dass er alle Kraft zusammennahm und einen Entschluss fasste. Es kostete ihn ziemliche Anstrengung, wieder zum Schreibtisch zu gehen, aber er tat es und setzte sich hin. Nachdem er sich an der rechten Wade gekratzt hatte, nahm er mit der Miene eines Menschen, der eine wichtige Sache zu erledigen hat, Papier aus einer Lade und aus einer anderen eine Schere und ein Teppichmesser. Versehen mit diesen Hilfsmitteln bog er sich den am Tisch liegenden Tagebüchern entgegen.
Schweiß lief über Alfreds Stirn. Er nahm für das Format der erforderten Tagebuchseiten Maß, schnitt das Papier zurecht. Im tiefen Gefühl des erlittenen Unrechts überflog er seine in ehemals jugendlichem Schwung hingeworfenen Zeilen, die wie aus dem Lateinischen übersetzt klangen und deren Tinte schon so alt und ausgedorrt war, dass grüngelbe Reflexe darauf schimmerten. Trotz der breiten Textmarkerspuren, die das kranke Hirn eines der Einbrecher dokumentierten, konnte Alfred alles entziffern. Er lächeltegrimmig, verzog das Gesicht zu einer rachedurstigen Fratze. Dann endlich begann er die Abschreibarbeit und bedeckte das erste Blatt unter Murmeln mit Zeilen seiner während der Jahrzehnte enger gewordenen Schrift.
Ich habe heute Nacht von Nilpferden geträumt, dann bin ich aufgewacht, weil Sally mir die Nase zugehalten hat.
6
»Ich habe heute Nacht von Nilpferden geträumt.«
Alfred war aufgewacht, weil Sally ihm die Nase zugehalten hatte. Sie saß neben ihm auf den Fersen und schaute neugierig auf ihn herab aus ihrem offenen, sympathischen Gesicht.
»Ich mag deine Haut«, sagte sie fröhlich. »Sie ist so zart und doch fühlt man die Spannung.«
Den Morgenruf des Muezzins hatte Alfred glücklich verschlafen, jetzt schien die Sonne direkt aufs Bett, der blecherne Wecker auf der alten Munitionskiste zeigte auf Viertel nach sieben. Die Fliegen, die nachts ruhig an den Wänden geblieben waren, kamen auf ihn herunter und umschwirrten ihn. Er versuchte sie mit der Hand zu verscheuchen, eine setzte sich auf Sallys Oberschenkel.
»Du bist so weich«, sagte sie.
»Mir kommt es wie ein Wunder vor, dass eine Frau schon in der Früh gute Laune hat«, brummte Alfred erleichtert. »Alle Frauen, mit denen ich bisher zusammen war, mussten zuerst unter die Dusche.«
»Ich muss ebenfalls unter die Dusche«, sagte sie.
»Aber nicht, um mich zu mögen, sondern nur damit du nicht stinkst.«
Er seufzte behaglich und schmiegte sich mit leisen Kehllauten zurück in die Kissen, er war müde wegen der Probleme, die ihm seine Gallenblase machte, zu viel Kaffee, zuviele Zigaretten, zu viele Süßigkeiten. Jetzt fiel ihm ein, dass dies der Tag war, an dem das Röntgen gemacht werden sollte. Die nächtlichen Vorbereitungen hatte er erfolgreich überstanden, am Abend um zwanzig Uhr ein leichtes Essen, um vierundzwanzig Uhr diverse Pillen, jetzt musste er lediglich noch bis zum Mittag durchhalten und nüchtern bleiben. Sein durch Arbeit und Sex geprägter Lebenswandel hatte den ersten Röntgentermin vor einer Woche vermasselt, er war schon um zehn eingeschlafen und erst um vier wieder
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