Alles über Sally
Problemschule. Sie gehörte zu den besten öffentlichen Schulen der Stadt. Und weil sich das Leistungsdenken überall durchsetzte, auch im Verhältnis der Schulen untereinander, profitierte Sally von einer gesellschaftlichen Tendenz, die sie eigentlich ablehnte. Ihre Schule konnte sich die Schülerinnen und Schüler aussuchen, nur solche mit lauter Einsern und deren Geschwisterkinder, am besten aus den katholischen Volksschulen, weil gut erzogen und angepasst. Das machte die Arbeit leichter. Schon eine komische Sache. Privat hatte Sally mit Angepasstheit nichts am Hut, trotzdem war sie froh um jedes Kind, das keine Überraschungen produzierte und stillsaß und zuhörte, wenn Erwachseneredeten. Je mehr Schüler imstande waren, ihren schwächeren Mitschülern zu helfen, desto besser funktionierte das System. Die akademischen Standards waren hoch, die Disziplin einigermaßen intakt, der Anteil an verhaltenskreativen Kindern überschaubar. Und anderswo entsprechend höher. Indirekt proportional. Gewisse Probleme wurden einfach ausgesperrt. Und in der Gesellschaft war es nicht anders. Alles, was Mühe machte, wurde nach Möglichkeit auf Distanz gehalten, die sollten besser unter sich bleiben und nicht anderswo die Abläufe stören. Eine Art Klassengesellschaft. Eine Art kollektiver Heuchelei. Ja. Gleiche Bildungschancen für alle? Ein schlechter Witz. Und Sally gehörte mit zum System, sie hatte ihre alten Werte einem natürlichen Überlebenstrieb geopfert, weil auch sie nur über begrenzte Kraft verfügte. Auch ohne schwierige Kinder war das Unterrichten anstrengend genug.
Der Vormittagsbetrieb tröpfelte dahin. Sally spürte, sie brachte die nötige physische Präsenz ins Klassenzimmer, die das Publikum in Schach hielt. Die Schülerinnen und Schüler hatten gute Laune, ohne lästig zu sein. Nur in der 3C, Englischunterricht, kam es zu einer Auseinandersetzung mit einem Buben, der via Kopfhörer an ein technisches Gerät angeschlossen sein wollte, rund um die Uhr. Er hörte nicht auf mit seinem spitzfindigen Geschwafel eines Akademikersohnes, bis ihn Sally – wenn er schon reden wollte – zu einem Kurzreferat über seine Lieblingsband verdonnerte.
Nach der Stunde in der 7A musste Sally ihre Pause opfern, weil eine Schülerin das Bedürfnis hatte, von Problemen zu Hause zu berichten. Das Mädchen musste verarztetwerden. Sozialarbeit. Gleichzeitig war das natürlich eins vom Schönen an Sallys Beruf, sie mochte den Kontakt zu den Kindern, die so anders waren als sie selbst.
Die große Pause verbrachte sie im Lehrerzimmer. Sie versuchte, einen Fall zu klären, der sich vor zwei Tagen zugetragen hatte. Es ging um einen Buben aus ihrer Klasse, den eine Physiklehrerin während des Unterrichts in den Physiksaal geschickt hatte, dort stehe ein Alukoffer, den solle er bringen. Nach einer zu langen Zeit kam der Schüler unverrichteter Dinge zurück, der Koffer stehe nicht am angegebenen Platz. Die Physiklehrerin glaubte ihm nicht, musste den Versuch aber wegen Zeitmangels abbrechen. Später stellte sich heraus, dass der Schüler sich nicht getraut hatte zu klopfen, aus Angst, die Klasse, die im Physiksaal Unterricht hatte, würde ihn auslachen. Die Physiklehrerin hatte für diese Erklärung kein Verständnis, obwohl das Verhalten des Buben etwas war, was bei den Kleinen vorkommen konnte. Der Bub hatte sich für den Job ja nicht freiwillig gemeldet, er war bestimmt worden. Jetzt musste Sally im Gespräch einerseits der Kollegin recht geben, die nicht weniger Bestätigung brauchte als die Schüler, natürlich, der Bub hatte sich als unzuverlässig erwiesen und gelogen, andererseits in kleinen Schritten (sehr vorsichtig) um Verständnis für den Schüler werben.
So ging’s dahin, zig Interaktionen, eine hinter der anderen, Schülerinnen und Schüler, die ständig Fragen und Probleme hatten, Kolleginnen und Kollegen, die ständig Fragen und Probleme hatten, eine Direktorin, die sich ihr an die Fersen heftete. Ständig stellte jemand Fragen, ständig hatte jemand Probleme. Ständig redete etwas.
Von der großen Pause blieben fünf Minuten. Sally ging zur Sekretärin, sie brauchte ein Buch aus dem Schreibtisch von Pomossel, er hatte es ihr zum Ende der Ferien versprochen, als er wieder Lebendfutter für die Schildkröten gebracht hatte. Das Buch beschrieb den Wandel des Heldenbegriffs im Lauf der Zeit.
In wenigen Tagen begann am Landesgericht die Verhandlung gegen Pomossel, vorerst war er weiterhin vom Unterricht suspendiert.
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