Alles über Sally
Die Sorgen, die Sally hatte, waren genaugenommen nichts verglichen mit den Schwierigkeiten, in denen Pomossel steckte. Er konnte seinen Job und seinen Ruf verlieren, er konnte sich seine bescheidene Karriere versauen, und im widrigsten Fall landete er im Gefängnis. Sally kannte keine Details über den Stand der Ermittlungen, entweder es tat sich nichts oder man sagte ihr nichts. Aber sie wusste, wie hart es war, dass hier eine Umkehrung des üblichen Grundsatzes im Rechtssystem stattfand, dass für jeden die Unschuldsvermutung gilt, bis das Gegenteil erwiesen ist. Sie hatte mit Pomossel zwei kurze Gespräche geführt, seine Version klang einleuchtend und bei aller Ungeschicklichkeit nicht dramatisch. Sally hatte keinen Grund, ihm weniger zu glauben als der Schülerin, die die Beschuldigungen erhoben hatte. Sally kannte Pomossel seit Jahren, wenn auch bestimmt nicht gut genug, um sagen zu können, wie er tickte. Aber die Geschichte wollte nicht zu ihm passen, sein Fischblut und sein trockener Humor sprachen dagegen. Zumindest war das die Version, die sie sich wünschte, in Pomossels Interesse.
An einer Laugensemmel kauend, ging sie zu seinem Kabinett, mit den Schlüsseln von der Sekretärin sperrte sie aufund suchte nach dem Buch. Bevor es gefunden war, musste sie durch Unmengen an Papier hindurch, es war wie archäologisches Graben. Da gab es akribische Berichte über die Leistungen von Pomossels Schülern, alte Klassenfotos, jedes mit Pomossels traurigem Pokerface in der letzten Reihe, immer am extremen linken Rand des Bildes. Aber am eindrücklichsten war ein Buch über Träume. Damit hatte es eigentlich nichts Besonderes auf sich, außer dass jemand die reine Rolle, die er bis dahin inne gehabt hatte, auf einen Schlag verlor. Das Buch offenbarte etwas, was Sally Pomossel ebenfalls nicht zugetraut hatte – vom Mathematiker, EDV-Spezialisten und Schildkrötenzüchter, der wie Stan Laurel aussah, zu einer Person mit einer feinen individuellen Note, mit eigenen Gedanken und eigenen Versuchen, die Zusammenhänge in der Welt zu verstehen. Rätsel über Rätsel, schon wieder. Hannah Arendt: Verstehen beginnt mit der Geburt und endet mit dem Tod.
Wenn sie ehrlich war, gelang es Sally oft nicht einmal bei sich selber, vorherzusehen, wie sie auf etwas reagierte. Entsprechend bog sie den Rest des Vormittags hin mit einem Gefühl des Staunens, dass auch die dampfende Ansammlung aus fünfundzwanzigmal Fleisch, Geist, Seele und Einmaligkeit, zu der sie mit eingestemmten Armen redete, allenfalls halb zu kennen war und deshalb gar nicht. Die Kinder umgekehrt konnten erst recht nicht wissen, wer Sally war, wer sie selber waren, wer ihre Banknachbarn waren. Und deshalb verdienten sie Sallys Nachsicht, wie jeder andere auch.
Die leichte Möglichkeit, jederzeit Kontakt aufnehmen zu können, bringt eine sehr viel schrecklichere Zerrüttung in die Welt, als die schlimmsten Pessimisten vermutet haben. Es entsteht eine selbstsüchtige und unersättliche Freiheit wie die von Kindern, die wissen, dass niemand je erfahren wird, was am Nachmittag hinter der Hecke passiert ist.
Sofort nach der letzten Stunde rief Sally Erik an, er sagte, er würde sie gerne zum Mittagessen treffen.
»Ich bin dabei«, sagte sie.
Er kam zum ersten Mal zu spät, er habe sich mit einem Ministerialbeamten festgeredet. Dann diskutierten sie die großen Fragezeichen: Die Zukunft. Wie es enden würde. Wie es enden musste. Wie viele Schmerzen jeder bereit war zu riskieren.
Sally suchte in Eriks Gesicht nach Antworten, fand jedoch nur die eigene Unsicherheit gespiegelt, sie dachte: Ohne Träume ist alles so zeitlich. Sie hatte nicht die Illusion, dass sie und Erik durchbrennen und ihre Familien verlassen oder ihre Familien zusammenlegen würden. Diese Optionen standen kühl wie aus Glas außerhalb jeglicher Reichweite.
Erik ging zurück ins Ministerium für ein Treffen mit EU-Beamten, die in der Stadt waren wegen eines Ost-West-Dings. Sally fuhr nach Hause, sie kam gerade rechtzeitig, um dort Nadja in Empfang zu nehmen, Fanni im Schlepptau. Die beiden schäumten vor Energie, sie fragten, ob Sally mit ihnen spazieren gehen wolle. Sally behauptete, sie habe bis jetzt unterrichtet und sei noch nicht wieder ansprechbar. Außerdem habe sie noch Papierkram zu erledigen. Eine Lüge.
»Zum Abendessen?« fragte Nadja.
Sally fielen keine guten Gründe ein, mit denen sie auch dieses Angebot ablehnen konnte.
»Warum nicht?« sagte sie halbherzig. »Ja, gerne.
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