Alles über Sally
Möglichkeiten und das graue, laute Leben, das gelebt werden wollte mit einem Mindestmaß an Integrität. Ein Flugzeug blinkte am Himmel.
Nadja brachte das Gespräch auf Alfred. Sie erkundigte sich nach seinem Befinden und ob es ihn weiterhin wie an Stricken zu Hause halte.
»Da machen sich seine katholischen Wurzeln bemerkbar«, sagte Sally spöttisch.
Es war eine Anspielung auf Nadjas eigene Verwicklung in religiöse Emotionskomplexe.
Tatsächlich horchte Nadja auf. Einige Haarzungen leckten über ihr großflächiges Gesicht, als sie den Kopf herumwarf.
»Ein Gefühl der Sicherheit ist wichtig«, sagte sie ernst. »Sonst ist man verloren. Das muss Alfred zurückgewinnen.«
»Seit dem Besuch sind drei Monate vergangen«, antwortete Sally genervt. »Trotzdem würde er sich noch immer am liebsten unter Polizeischutz stellen lassen. Am Einbruch allein kann das nicht liegen. Es gibt da schon auch eine Neigung .« Kurzes Zögern. »Er bekommt noch den Nobelpreis für Stubenhockerei. Als wir uns kennengelernt haben, war das anders, ich meine, das exzessive Herumhängen hat es schon damals gegeben, aber ich habe es für ein politisches Statement gehalten, weißt du, wegen dem Kerzenlicht und der Wasserpfeife.«
»Und dem Sex«, warf Erik ein. »Der ist ebenfalls zu einem politischen Akt hochstilisiert worden. Ein paar Schlaumeier haben sich davon Vorteile bei der Partnersuche versprochen.«
Nach dieser nicht ganz von der Hand zu weisenden Bemerkung versank Erik wieder in sein Grübeln.
»Die Wasserpfeife verwenden jetzt die Kinder«, sagte Sally. »Alfred sitzt vor der Glotze.«
»Besser ein kleiner Italiener als ein fliegender Holländer«, sagte Nadja ohne besondere Betonung. »Erik ist praktisch nie zu Hause. Oder nur zu den seltsamsten Tageszeiten.«
Der Angesprochene schwieg und schaute drein, als zähle er mit den Händen die Pulsschläge an den Schläfen. Das sagte sein Gesicht. Und sein Gehirn? Kein Kommentar. Sally zwirbelte ihren rechten Ohrmuschelrand, sie sah unruhig von Erik zu Nadja. Sie dachte: Wenn schon, dann lieber ein Gespräch über Alfred.
»Wir können tauschen«, verkündete sie. »Willst du ihn? Mit Alfred bist du gestraft. Ständig zu Hause sitzen und über den Zustand der Welt jammern, das ist spießig. Und langweilig. Und es behindert meine Lust am Leben.«
Sie hörte ein kurzes Stöhnen. War ich das, die gestöhnt hat? Mit rechtsgeneigtem Kopf lächelte sie verlegen. Nadja lächelte komplizierter. Sie sagte:
»Ich glaube, Alfred ist nur nicht ultramännlich genug, um Tiefschläge wie den Einbruch wegzustecken, als wären sie natürliche Vorgänge.«
»Aber männlich genug«, sagte Sally entschlossen, »umsich in Verhaltensweisen zu verrennen, die ihm und anderen nur Nachteile bringen.«
»Bestimmt kämpft er sich wieder heraus.«
»Alfred?«
Einen Augenblick lang waren Nadjas Augen größer, blauer. Ihre Haut schien kühl wie Porzellan. Sie nickte zur Bekräftigung.
»Aber das will er doch gar nicht!« rief Sally aus. »Er hat sich ein ganzes Museum von Symptomen zugelegt und sich darin häuslich eingerichtet. Den Thrombosestrumpf trägt er jetzt täglich, er sagt, der Strumpf sei angenehm. Das ist doch nicht normal!«
Diesem Argument gelang, was zuvor weder dem Hinweis auf Alfreds schlummernden Katholizismus noch der Erwähnung der ideologischen Mysterien von Sallys Jugend gelungen war. Es lenkte ab auf ein Thema von weniger Relevanz und Intimität. Gestik und Mimik von Nadja trugen jetzt den Stempel der Belustigung.
»Ich selber habe wegen der Gefahr von Krampfadern mit dem Ballett aufgehört«, sagte sie. »Ballett ist gut für die Figur, aber man muss es am eigenen Leib erleben, das ist der Nachteil. Die Aussicht auf ein Sportherz, das haben die Ballettleute alle, die werden meistens nicht alt. Ich verzichte drauf! Und Krampfadern! Nein danke. Ich habe zu mir gesagt: Herzchen, in deinem Alter kann man leicht welche heraufbeschwören, wenn man dazu neigt, man weiß es ja vorher nicht. Aber wenn man dazu neigt, kann man sich die Krampfadern praktisch über Nacht mit Ballett herausarbeiten. Also habe ich es aufgegeben, ich verderbe mir nicht mutwillig meine schönen Beine. Ich hab siemir jeden Tag gut angeschaut – und bei den ersten Äderchen: Ich hab den Unterricht sofort gekündigt! Mit Spitze habe ich es nur ein- oder zweimal probiert, das hat mir Wadenkrämpfe eingebracht. Jetzt konzentriere ich mich auf rhythmische Übungen für Bauch und Hüften. Ich hüte mich vor
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