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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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so schön vorm Haus gesessen und den Pferden zugeguckt, wenn sie in die Schwemme geritten wurden. Vielleicht war alles falsch gewesen?
    In Tilsit hatte immer die Sonne geschienen. In Tilsit standen immer Sonnenblumen am Zaun.
     
    Die Einheimischen standen Spalier, als die Wagen mit den Alten eintrafen, einer nach dem anderen. «Heil!» wurde nicht gerufen. – Gott im Himmel! Das war vielleicht eine Fuhre, die armen Menschen! Hustend und spuckend! Die hatten sich ihren Lebensabend gewiß anders vorgestellt. Wie wird es mit uns sein, wenn wir erst mal alt und schwach sind? fragten sich die Zuschauer. Und die einheimischen Alten im Kirchstift, die davon hörten, daß sie Zuzug bekommen sollten, fragten sich, wann schaffen sie uns fort? Herr, lehre mich, daß es ein Ende mit mir haben muß ...
    Manch ein Passant dachte wohl auch: Schauderhaft! Sollte man diese siechen Menschen nicht erlösen? Unnütze Esser, unwertes Leben? – «Friedhofsgemüse», dieses Wort machte die Runde.
     
    Schon kamen Ärzte in weißen Kitteln, Heil Hitler. Nichts war vorbereitet, nichts organisiert ... Im Kino die Stühle rausreißen? – Nein, da wurde Einspruch eingelegt, das Kino brauchteman noch, die Leute wollten ja auch mal auf andere Gedanken kommen. Mal was Lustiges sehen und mal aus vollem Herzen lachen?
     
    Liebling, was wird nun aus uns beiden,
    werden wir glücklich oder traurig sein?
    Werden sich uns’re Wege scheiden o
    der gehn wir ins Land der Liebe ein?
     
    Da mußte wieder mal die Schule herhalten, da war ja Platz genug. Der Rektor rang die Hände, und die Kinder liefen jubelnd durch die Straßen.
    Der Ortspastor ließ sich sehen, wie der Postbäcker vor seinem Laden stand er im Portal seiner Kirche, und in der Tat: Man hob auch hier wieder Tote von den Wagen, die Brotration fest in der verkrampften Hand, und legte sie ihm vor die Füße. Die Frage war, wie man sie unter die Erde bringt? Erst mal draußen hinlegen, einen neben den andern; wenn sie auftauten, dann stänken sie gewiß.
    «Gebim-gebim-gebim» machte die Glocke. «Um achtzehn Uhr treffen wir uns zur stillen Andacht», sagte er zu Vorübereilenden, die es nicht glauben konnten, daß Tote vor der Kirche lagen. Das ging dann von Mund zu Mund.
     
    Auch Peter sah sich die Alten an, die da auf den Wagen saßen und nun heruntergehoben wurden. Und schon wurden die Wagen gewendet, um den Rest dieser Leute aus Mitkau zu holen. Man konnte die Alten doch nicht in die Hände der Russen fallen lassen? Es fiel Peter ein, daß er ja mit den leeren Fuhrwerken zurück nach Mitkau fahren könnte, in Georgenhof mal kurz ein- gucken und sofort wieder mit zurückfahren? Die Leutchen dort mal überraschen? Die Hesses und Sonja. Und Jago, den Hund?
    Das Vaterhaus noch einmal ansehen, mit ganz anderen Augen? Und am nächsten Tag mit dem letzten Schwung der Alten zurückkehren?
    Vielleicht könnte man auch noch was mitbringen von Zuhaus. Peter dachte an die neue Lokomotive, die er zu Weihnachten geschenkt bekommen hatte – die hätte er ganz gern gehabt. Und er dachte auch an die Scherenschnitte seiner Mutter. Die hatte er sich noch nie so richtig angesehen.
     
    «Du bleibst hier», sagte das Tantchen, obwohl der schlesische Herr ihr sehr zuriet: Peter könnte doch noch Wurst holen und Schinken. So gern möchte er mal wieder Schinken essen? «Wissen Sie noch? Schlesischer Plusterschinken?»
    Peter freute sich schon, daß er endlich einmal jemand auf seiner Seite hatte, aber das Tantchen sagte: «Du bleibst hier!» Nein, nicht nach Mitkau fahren, das Kapitel war abgeschlossen. Dafür durfte er ausnahmsweise mal ins Kino gehen.
    Das Tantchen gab ihm die fünfzig Pfennig für den Sperrsitz und fragte hinterher: «Na, wie war’s?» Sie schwärmte noch immer von Benjamino Gigli, den hatte sie in ihrer Jugend mal gehört, und der schlesische Herr konnte sich daran erinnern, daß auch er für ihn geschwärmt hatte.
    «Vergiß mein nicht!» sang er ihr vor, und in der Tat, er hatte eine schöne Stimme.
     
    Gigli! Das waren noch Zeiten gewesen! – Der Schlesier lud das Tantchen zum Essen in den Ratskeller ein. Hackbraten mit Salzkartoffeln gab es dort für 50 g Fleischmarken und 10 g Fett, die das Tantchen ohne weiteres spendierte. Heil Hitler. Sie zog sich extra eine andere Jacke über, in dem Kleid konnte sie sich nicht gut sehen lassen, das mußte dringend mal gebügelt werden. Ihre guten Sachen lagen auf Wladimirs Wagen. Die goldeneBrosche mit den goldenen Pfeilen in jede Richtung
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