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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst
Autoren: Walter Kempowski
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steckte sie sich an. Es war lange her, daß sie von einem Herrn zum Essen eingeladen worden war. Genau genommen war dies noch nie der Fall gewesen.
    Spät am Abend kam das Tantchen zurück, und sie war verstört. «Laß mich in Ruhe!» sagte sie zu Peter, als der fragte: «Na, wie war’s?»
    Es war eben alles nicht so einfach.
     
    In Mitkau saß Dr. Wagner am nächsten Morgen still in seiner Studierstube, als er von der Räumung des Klosters erfuhr. Ein großer Teil der Greise war schon fortgekarrt worden. Nun sollte der Rest noch weggeschafft werden.
    Er saß am Schreibtisch, vor sich das marmorne Tintenfaß. Tinte war stets genug dagewesen, aber die Gedichte, die er sich schuldig war, hatte er immer noch nicht vollendet, Rilke und Stefan George hatten ihm dazwischengefunkt. Und da hatte er gesagt: «Lassen wir das.»
    Leider hatte ihn ja auch die Mutter so gar nicht unterstützt. Die Blätter, die er ihr dann und wann auf den Stopfkorb gelegt hatte: nur eben flüchtig angesehen. Und nie etwas dazu gesagt.
     
    Er sah sich das Album an, in das er Fotos seiner Schüler eingeklebt hatte, und er versah die Bilder der Gefallenen mit einem Kreuz.
    Er zählte die Zahl seiner Schüler zusammen, die durch seine Hände gegangen waren. Eine lange graue Kolonne sah er vor sich, den Kopf hielten sie gesenkt ... Und er dachte an manch hellen Kopf, aber auch an Dumpfheit, die sich nicht mitreißen ließ von Anmut und von Würde.
    Auch an die endlose Reihe von Stunden mußte er denken, dieer über sie ausgegossen hatte. Wie einen Rosenkranz hatte er sein Wissen dahergebetet, Tag für Tag und Stunde für Stunde. Jahr für Jahr immer dasselbe? Erlösung war ihm nicht zuteil geworden.
     
    Er riß sich aus der Betrachtung los, zog Wanderschuhe und Wanderhose an und wickelte die Gamaschen drüber, und dann machte er sich in seinem Gehpelz auf den altbekannten Weg zum Kloster: die Horst-Wessel-Straße hinunter über den Markt an der Kirche vorüber. Auf dem Markt kam ihm die Organistin entgegen. Da klappte er aber doch schnell den Kragen auf! Diese Frau hatte ihm noch gefehlt! Sie hatte ihm den Zutritt zur Orgel verwehrt, damals, als die Mutter eben gestorben war, er hatte sich an dem Instrument recht ergehen wollen in seinen Variationen: es-Moll, und dann über Ges-Dur nach B? Das hatte sie ihm verwehrt, und er war auf den schillernden Klang seines Klaviers angewiesen gewesen, und nebenan die tote Mutter auf dem Bett.
     
    Am Rathaus ging er vorüber und an dem kleinen Gefängnis. Zweiter Stock, zweites Fenster von links? Dort war ein bleiches Gesicht auszumachen. Dort wurde gewinkt. Aber Dr. Wagner sah gerade nicht hin. – Er ging über die große neue Brücke, die noch immer nicht abbezahlt war, an der Pioniere jetzt Sprengladungen anbrachten, am nicht enden wollenden Zug der Flüchtenden vorüber. Nicht mit flatternden Haaren zogen sie dahin, nicht schlichen sie sich bei Nacht und Nebel über irgendwelche Grenzen, nein, mit Sack und Pack zogen sie vorüber, stets den vorgeschriebenen Abstand haltend. Feldgendarmerie zeigte ihnen den Weg. Tief unter ihnen lag der graue, glattvereiste Fluß mit den eingefrorenen Stegen, auf denen Frauen im Frühjahr ihre Wäsche ausklopfen würden.
    Vor dem Kloster standen die Leiterwagen, mit frischem Stroh ausgelegt. Alte Menschen wurden hinaufgehoben, Männlein und Weiblein getrennt, allesamt in Schwarz; sie wurden geschoben, gesetzt und gelegt. Jeder mit ein paar Habseligkeiten, und mancher mit einem Apfel in der Hand, einer Spende des Roten Kreuzes, wie Reichsäpfel anzusehen, und die Krückstöcke wie Zepter. Und als sie dann alle saßen und lagen, wurde noch einmal Stroh herangebracht und über sie gedeckt. So mochte es angehen.
    Der Transportführer sagte zu Dr. Wagner: «Na, was ist? Steigen Sie mit auf? Sie könnten den zweiten Wagen übernehmen ... » Und da entschied er sich: Sofort weg! was immer kommen mag. Das Abbrennen der Stadt mit ansehen zu müssen, zusammenbrechende Häuser, Soldateska außer Rand und Band, von einem Haus ins andere stürzend und sich Geschmeide zeigend, das ihnen zwischen den Fingern herunterhängt? und sich womöglich von einem Russen den Leib visitieren lassen?
    Das mußte vermieden werden.
     
    Er stieg also auf, und da die Wagen unweit der Horst-Wessel-Straße warten mußten, bis das Tor zur Durchfahrt freigemacht worden war, stürzte er in seine Wohnung und warf den Rasierpinsel in die Luftschutztasche, in der er alles aufbewahrte, was ihm lieb und teuer
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