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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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Flugzeugkabine ausgestaltet hatte: alte Weckeruhren als Armaturen, ein Wagenrad als Steuer und eine Blechbüchse als Benzinkanister, Wasser schüttete er hinein. Vorn dran hatte er die stromlinienförmigen Reste eines Motorradbeiwagens montiert. Immer in Richtung Westen flog er. – Jetzt im Winter sammelte sich in seinem Flugzeug Schnee.
     
    Jeden Nachmittag um Punkt drei Uhr kam Studienrat Dr. Wagner nach Georgenhof. Weil er unverheiratet war, nannte man ihn einen «Hagestolz». Einen Spitzbart trug er, und unter seiner goldenen Brille hatte er Tränensäcke. Knickerbocker und schwarze Ohrenschützer. Jetzt im Winter, in diesen kalten Tagen, trug er einen Gehpelz: der hatte auch schon bessere Tage gesehen. Wagner war Lehrer für Deutsch und Geschichte, Latein im Nebenfach. «Uns ist in alten maeren wunders viel geseit...»
    Trotz seines Alters mußte Dr. Wagner noch immer Dienst tun, und er hatte es satt, wie er es ausdrückte: «Ich hab’ es geteragen siebenzig Jahr, und ich kann es nicht teragen mähr ... » Deutsch und Geschichte: Jahr für Jahr, und Tag für Tag? Und wenn man einmal durch ist, von vorn wieder anfangen?
    Die vielen Kinder in der Klosterschule, das Gewühl und das Geschrei in den ehrwürdigen Kreuzgängen, und die Kollegen, alle sehr eingefahren. Seit die jüngeren an der Front waren, ergab sich kaum mal ein weiterbringendes Gespräch im Lehrerzimmer.
    Die Bibliothek war sehenswert. Es war gefragt worden, ob man sie nicht nach Königsberg schaffen sollte. Möglicherweise kämen die Russen ja doch? Aber seit der Zerstörung der Stadt sagte man: Gott sei Dank haben wir das nicht getan!
     
    Als Wagner sich an diese Schule hatte versetzen lassen, vor vielen, vielen Jahren, war Sommer gewesen, da hatte die Sonne schräg durch die Spitzbogenfenster geschienen, im Garten würzige Kräuterbeete und Blumen überall, Malven, Rittersporn und Phlox? Schwalben waren durch die Kreuzgänge gezwitschert. Der schief und krummene Kreuzgang, der hohe Rempter – im Sommer wunderschön. Im Hof stand sogar noch der Brunnen aus dem Mittelalter, von Efeu überklettert. Und mit den Kollegen, jung und frisch, hatte es ein gutes Einvernehmen gegeben.
    Aber jetzt, das alte Gebäude – eisig kalt, da konnte man heizen, so viel man wollte. Die hohen, feuchten Räume ...
     
    Statt eines Parteiabzeichens trug Dr. Wagner das Schleifchen des Eisernen Kreuzes, das er Gott sei Dank im Ersten Weltkrieg erworben hatte. Mit Hilfe dieses Schleifchens und den Mitgliedschaften im NSV und im Reichskolonialbund und gelegentlichenVorträgen für den Luftschutz hatte er Anwerbungen der Partei abwehren können, die ihn aus dem Kollegenkreis anfänglich häufiger, dann seltener erreichten und nun gar nicht mehr. Er hatte sich entziehen können. Hatte er etwa einen Draht nach oben?
    Klavierspielen konnte er, und wenn man an seinem Haus vorüberging, hörte man ihn spielen. Und manchmal sang er sogar dazu. «Ich lebe ganz zurückgezogen», pflegte er zu sagen. In der Horst-Wessel-Straße wohnte er, gleich neben dem Finanzamt.
     
    Jetzt waren die Pforten der Klosterschule geschlossen. In den gewölbten Klassenräumen hatte man Betten aufgestellt für alte Leute, die aus Tilsit gekommen waren. Und Dr. Wagner war überflüssig geworden. Er «kümmerte» sich also ein wenig um Peter, wie das genannt wurde, seinen Lieblingsschüler, den er immer schon mit Wohlgefallen betrachtet hatte. «Dich laß ich nicht verlottern!» Der schmale Kopf, das blonde Kräuselhaar, die ernsten Augen ... Und wenn er auch vier Kilometer laufen mußte von Mitkau nach Georgenhof, vier Kilometer hin und vier Kilometer zurück, so scheute er den täglichen Fußweg doch nicht, um nach dem Rechten zu sehen und sich um den Jungen zu kümmern, jeden Tag Punkt drei. «Dich laß ich nicht verlottern! » Der Vater im Feld, die Mutter so sehr in sich gekehrt, und Ukrainerinnen im Haus ...
    «In dem Jungen steckt ’ne Menge drin.»
     
    Studienrat Dr. Wagner kümmerte sich um Peter, nun schon seit Weihnachten Tag um Tag, er scheute nicht den langen Weg, das war doch selbstverständlich, und außerdem pflegte man ihm jedesmal einen Teller mit Schmalzbroten hinzustellen. So was war mitzunehmen! Schmalz mit Äpfeln ausgebraten und Zwiebeln,die Grieben kross? Für einen Junggesellen war es in dieser Zeit gar nicht so einfach durchzukommen. Hier saß er wenigstens in einer warmen Stube. Und in Georgenhof, da wußte man genau, was man an ihm hatte.
     
    Obwohl er selbst tierlieb

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