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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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er lief ihr direkt in die Arme.
    «Na, spazierengehen?» sagte er. «Ist es Ihnen nicht zu kalt?» Und er sah hinter sie, Heil Hitler, ob sie allein ist oder in Begleitung. Noch nie war die Frau von Globig hier spazierengegangen. Wollte sie Holzdiebe erwischen?
    Es war die Frage, ob Drygalski sich hier nicht auch bedienen wollte? Der Wald ist schließlich für alle da? Am Fluß die Meterware, fein aufgestapelt, hatte er es darauf abgesehen?
    Sie komme wohl von Elfriedes Grab? Er könne sich noch gut an das Kind erinnern. Ein kleiner Sonnenschein.
    «Ihre liebe Tochter, Frau von Globig», sagte er, «und unser Sohn ...»
     
    Während sie mit Drygalski zum Hof zurückging, unabsichtlich im Gleichschritt, konnte Katharina deutlich sehen, daß sich oben im Fenster ihres Wintergartens ein blasses Gesicht zeigte. Und ihr fielen die Fußspuren ein, die das Tantchen entfernt hatte. Daß sie nur in einer Richtung vorhanden waren, das war dem Tantchen gar nicht aufgefallen.
    Aber das Abschließen der Tür? Daß sie das vergessen hatte?
     
    Der Gast hatte sich in die Abseite verkrochen und schlief. Katharina verhielt sich leise, und die Zeit verging.
    Auf dem Tisch lagen die Bücher von Stefan Zweig und Jakob Wassermann. Der Fremde hatte noch «Das Buch der Lieder» dazugelegt, eine altmodische Ausgabe in rotem Leder, goldbedruckt. Er hatte es quer auf die andern Bücher draufgelegt, so als ob er sagen wollte: Das ist ein Dichter ... An den hättet ihr euch halten sollen.
     
    Als es dann dunkel wurde, kroch er hervor. Er hatte auf Vorrat geschlafen, wie er sagte, und nun mußte ja auch schon bald an Abschied gedacht werden.
    Sie saßen am Tisch ... Feuerschein am Horizont, das an- und abschwellende Grummeln in der Ferne.
    Dann packte Katharina ihm Essen ein, eine halbe Wurst, Brot. Auch zwei Päckchen Zigaretten riß sie sich vom Herzen und eine Tafel Schokolade.
     
    Bevor er dann aufs Fensterbrett stieg, strich er Katharina mit der zusammengerollten Hand einmal kurz über die Wange. Aber «danke» sagte er nicht. Er nahm die Mütze von der «Kauernden» und setzte sich aufs Fensterbrett. Ob man sich wiedersieht? Läuft man sich mal wieder über den Weg?
    «Alles Gute, Herr Hirsch», sagte Katharina, und der Mann schwang sich hinaus.
    Erleichtert sah sie ihn hinuntersteigen. Aber sie dachte auch: «Schade.»
    Winkte er ihr noch zu? Vom Trampelpfad aus winkte er ihr zu. Wohin würde es ihn treiben? Pastor Brahms würde das wohl irgendwie deichseln.
     
    Katharina säuberte das Waschbecken, in dem sich noch schwarze Bartstoppeln fanden, und zog die Klospülung. Bei der Gelegenheit beseitigte sie auch die abgeschnittenen Fingernägel, die auf dem Rand des Waschbeckens lagen.
    Sie probierte es und spazierte durchs Zimmer, wie er es immer getan hatte, von einer sicheren Stelle zur andern.
    Er hätte sich bedanken sollen, dachte sie, der Herr Hirsch, da wär’ ihm kein Zacken aus der Krone gefallen. Eberhard würde man nichts davon erzählen. Vielleicht nach dem Krieg, später, wenn alles vorüber ist? «Stell dir mal vor ...»
     
    Den Rasierpinsel, den der Mann benutzt hatte, faßte sie mit zwei Fingern an und warf ihn fort. Dann ging sie an die Tür und schloß sie noch einmal ab. Für alle Fälle.
     
    Und dann stellte sie das Radio an, und da wurden Schlager gesendet, und sie schleuderte ihre Stiefel weg und tanzte von einem Zimmer ins andere.
    Sie hatte es bestanden, das Wagestück, und niemand hätte ihr das zugetraut!
     
    Für eine Nacht voller Seligkeit,
    da geb’ ich alles hin.
    Doch ich verschenk’ mein Herz nur dann,
    wenn ich in Stimmung bin!
     
    In der Nacht kroch sie dann in die Abseite. Das Papier einer aufgebrochenen Tafel Schokolade lag auf der Matratze, da hatte sich der Mann also bedient.
    Sie knipste die Lampe an und mummelte sich ein. Dachziegel klapperten, und ein feiner kalter Luftstrahl traf ihr Gesicht. So etwa mußte es Forschern im ewigen Eis zumute sein.

Die Offensive
    N och in der Nacht brach es im Osten los. Ein unaufhörliches Rollen hinter dem Horizont, und der Himmel hell erleuchtet! Das war anders als die Bombardierung Königsbergs. Einzelne Bombeneinschläge konnten damals wahrgenommen werden, aus weiter Ferne. Dies hier war ein unaufhörliches Rollen, das auch zu hören war, wenn man sich die Ohren zuhielt. – Kein Zweifel, da wurde aus tausend Kanonen geschossen, kein Zweifel: jetzt ging es los.
    Im Radio hieß es, daß die lang erwartete Offensive der Roten Armee nun losgebrochen sei.

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