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Alles Umsonst

Titel: Alles Umsonst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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der noch aus dem 19. Jahrhundert stammte, gab einigermaßen Wärme ab. Sie zirkelten ihre Stöße am «Bi-jar», wie der Baron sagte, und stützten sich auf das Queue. Standen auch mal am eisverkrusteten Fenster, hauchten ein Loch hinein und sahen auf den «Zug der Zehntausend», wie Studienrat Wagner die Flüchtlingsschlange nannte. Xenophon: Verräter wurden lebendig begraben. Den Rauch ihrer Zigaretten bliesen die beiden Herren wechselseitig in die Luft, überkreuz und manchmal auch aus der Nase. Wie der Dampf, den die Pferde da draußen zischend aus den Nüstern ausstießen, so sah das aus.
    Manchmal zählten sie mit: Eine Kolonne mit dreihundert Wagen! Wie in Frankreich 1940, die Belgier, wie sie vor den Deutschen flohen.
     
    Der Baron war mal in Paris gewesen, vor langer Zeit, davon erzählte er jetzt, Wanzen in den Hotels, und die dreckigen Klos?
    Unbeschreiblich! Die Franzosen seien ausgemachte Schweine! Durch die Bank. Einer wie der andere. Die jungen Frauen übrigens nicht so leichtblütig, wie man als Fremder annahm. Von «freie Bahn» hatte keine Rede sein können. Da hatte mancher schon auf Granit gebissen. Die waren alle aufs Heiraten aus. All die schlüpfrigen Geschichten, die man sich so erzählte, erstunken und erlogen. Und doch, sagte der Baron, er erinnere sich da an den Frühling 1932 ... «Also, ich kann Ihnen sagen ... » Wagner war auch in Frankreich gewesen im Ersten Krieg, er war durch schlammige Gräben gerobbt, der hatte von französischen Kokotten keine Ahnung. Aber als Student hatte er italienische Friedhöfe besucht, mit seinem Freunde Fritjof – «Gallia omnis est divisa in partes tres ... ». Und die Grabinschriften hatten sie nicht lesen können, trotz x Semester Latein! Das mache ihm noch heute zu schaffen, obwohl er sich schon längst entschlossen habe, darüber zu lachen. – Fritjof, dieser frische, braungebrannte Junge, kraftvoll und elastisch, dann ja auch gefallen.
     
    Geburt und Grab – ein ewiges Meer ...
     
    Ach ja, Goethe ... Er mußte es noch irgendwo liegen haben, das winzige Exemplar von Goethes Faust, das ihn als Kriegsfreiwilligen 1914 ins Feld begleitet hatte. Wo lag es bloß? Das würde er wieder zu sich stecken, wenn es auf die große Wanderschaft ginge. Würde auch er die Heimat verlassen müssen? – Zunächst einmal wurde «I wo! » gesagt.
    «14/18 haben wir die Russen doch auch kirre gekriegt ...»
     
    Oberwart Drygalski stand an der Chaussee, ob auch alles seine Richtigkeit hat. Er führte Strichlisten, und von den Treckführern ließ er sich die Bescheinigungen zeigen, ja, sie dürfen trekken, Herkunftsort, Zielort, Anzahl der Gespanne. Manchmalstieg er auf die Wagen, ob sich zwischen dem Hausrat nicht vielleicht ein Soldat verborgen hat? Auch wies er Flüchtlinge ein, jedes Haus mußte welche nehmen, einzelne Leutchen und ganze Familien. Es war ja nur für ein, zwei, höchstens drei Tage, länger hielt sich niemand auf. Es mußte gerecht verfahren werden, und dafür war Drygalski der richtige Mann.
    Zwischendurch ging er auch mal nach Hause, wie’s der Frau geht. Legte Holz auf die Ofenglut, zog ihr die Bettdecke zurecht und stellte ein Glas Wasser hin.
    Er selbst würde keine Flüchtlinge aufnehmen können, die kranke Frau ... Das Dienstzimmer wurde für all die Akten und fürs Telefonieren benötigt. Der Rollschrank an der Wand, der Schreibtisch mit dem Telefon?
     
    Ein einzelnes junges Mädchen fand sich ein, das hatte niemanden mehr auf der weiten Welt. Hieß sie Käte? oder hieß sie Gerda? Dicke rote Backen hatte sie. Drygalski zeigte ihr die Dachkammer und die schöne Aussicht, die man nach Norden hat, den Georgenhof und im Westen das weite Feld, jetzt mit Schnee bedeckt: Der Wind fuhr darüberhin. Und auf die Chaussee, jetzt Wagen auf Wagen ... In dieser Kammer hatte sein Sohn gehaust, das war nun auch schon Jahre her, und das erzählte er dem Mädchen. In Polen gefallen.An der Wand noch der Tisch, an dem er sich aufs Technikum vorbereitet hatte. Eine Mappe mit Zeichnungen lag in der Lade, nie wieder angesehen. Auch Skizzen von der Albert-Leo-Schlageter-Siedlung, wie man sie verschönern könnte. Und der Entwurf eines Weihespiels, von dessen Existenz Drygalski keine Ahnung hatte. Das Flüchtlingsmädchen trug Hitlerjungen-Skihosen unterm geblümten Rock und einen Mantel mit gesteppter Faltenpasse von vor dem Krieg noch, der wohl ihrer Mutter gehört hatte. Ihre Leute hatte sie gleich zu Beginn der Flucht verloren, wareben mal in ein

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