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Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Alles, was er wollte: Roman (German Edition)

Titel: Alles, was er wollte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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des Außenaborts. Sollte Clara helfen, so protestierte sie wie ein verwöhntes kleines Mädchen, und manchmal wäre ich am liebsten ins Haus gelaufen, um ihr die Leviten zu lesen. Zu anderen Zeiten wieder kostete es mich die größte Willensanstrengung, nicht durch die Tür zu stürmen und mein Kind zu umarmen, das ohne mich aufwuchs.
    Während ich in der Dunkelheit stand, machte ich mir Gedanken über Etnas Vorfahren mütterlicherseits, über ihre unbekannte Herkunft. Der Mann, der das Dienstmädchen geschwängert und dann verlassen hatte, konnte weiß der Himmel woher gekommen sein, sagte ich mir. Möglicherweise war er Jude. Eher aber ein gemeiner Yankee mit ungewöhnlichen Gesichtszügen. Aber er konnte genausogut Türke oder Inder oder Russe gewesen sein. Jeden Abend starrte ich das Gesicht meiner Frau an und fragte mich: Ist sie griechischer Abstammung? Italienischer? Fließt Zigeunerblut in ihren Adern?
    Ich dachte auch über Schicksal und äußere Umstände nach. Wäre nicht der Brand ausgebrochen, so wäre ich Etna Bliss wahrscheinlich nie begegnet. Wünschte ich jetzt, diese wenigen Spritzer Öl in der Hotelküche wären nicht ins Herdfeuer getropft? Hätte ich dann vielleicht einsam und allein meine Seezunge gegessen und die junge Frau im topasfarbenen Seidenkleid, die hinter mir saß, nie bemerkt? Und wäre so von der Freude und dem Schmerz der folgenden fünfzehn Jahre verschont geblieben? Hätte vielleicht zwei Monate später die Tochter eines Antiquars aus Thrupp kennengelernt und mich mit ihr verheiratet? Oder hätte drei Tage später eine Frau aus der Pferdebahn aussteigen sehen, der ich nachstellte, um mich schließlich mit ihr zu verloben? Oder wäre auf einem Fakultätsfest im College mit der Frau eines Kollegen bekannt gemacht worden (nein, niemals; ausgeschlossen, das weiterzudenken, niemals wäre ich so tief gesunken) … Oder wäre zwanzig Jahre später als alternder Junggeselle einer Witwe begegnet, die meine berufliche Position und mein kleines Vermögen gelockt hätten? Oder hätte mir andererseits das Schicksal noch viel übler mitspielen können? Hätte es geschehen können, daß ich die Tochter eines Arztes heiratete, die mir ein Kind schenkte, das dann infolge der Nachlässigkeit meiner Frau starb? Es gibt weit schlimmere Geschichten als meine. Das ist mir klar. Aber die Wirkung der äußeren Umstände auf das Geschick eines Menschen ist beträchtlich, das ist nicht zu bestreiten.
    Meine abendlichen Fahrten zum Häuschen mehrten sich, wurden zur täglichen Gewohnheit. Wenn ich ein, zwei Stunden am Fenster gestanden hatte, pflegte ich in den Wald zu gehen, um etwas Käse und Brot zu essen und von dem Whisky zu trinken, den ich mitgebracht hatte. Ich trank ziemlich viel in jenen Monaten, und manchmal hatte ich Mühe, den Ford in die Garage zu manövrieren, wenn ich in den frühen Morgenstunden nach Hause kam. Ich schlief morgens lang und kam zu meinen Seminaren, die ich völlig vernachlässigte, oft zu spät oder versäumte sie ganz. Meine Kollegen, anfangs besorgt, dann beunruhigt und schließlich ärgerlich, gingen einer Begegnung aus dem Weg. Mir paßte das gut, ich wollte nur Ruhe und Anonymität, beides nicht leicht zu haben in dieser Anstalt voller mittelmäßiger und ungebärdiger junger Kerle. Im Sommer würde ich aufhören, sagte ich mir mit wohliger Erleichterung.
    Nur einmal in der ganzen Zeit, in der ich regelmäßig zu dem kleinen Haus hinausfuhr, um meine Frau zu bespitzeln, wäre ich beinahe ertappt worden. Ich war in den Wald gegangen, um auszutreten, und machte wohl versehentlich irgendein Geräusch, denn als ich fertig war und zum Haus zurückkehren wollte, sah ich Etna am Fenster stehen. Ich hatte den Eindruck, daß sie mir direkt ins Gesicht blickte. Aber so, wie sie den Kopf von einer Seite zur anderen drehte, schien sie mich nicht entdeckt zu haben. Ich sah, wie sie vom Fenster wegtrat. Gleich darauf wurde die Tür geöffnet. Ein Schultertuch um sich ziehend, trat sei fröstelnd ins Freie. Ihre Schritte hinterließen leichte Spuren auf der schneebedeckten Spätmärzwiese.
    »Wer ist da?« rief sie, in die Nacht hinausspähend.
    Ich stand hinter einem Baum und beobachtete sie, voll Sehnsucht, mich zu zeigen. Wie hatte es dazu kommen können, daß ich, Nicholas Van Tassel, hier hinter einem Baum stand und mich, während hinter mir noch der warme Dampf meines Urins aufstieg, vor der einzigen Frau versteckte, die ich je geliebt hatte?
    Aus der Gewohnheit wurde

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