Alles, was er wollte: Roman (German Edition)
nicht mehr aushalten konnte, fragte ich so beiläufig, wie es mir möglich war: »Kennst du ihn eigentlich?«
Nach einem kurzen Zögern antwortete sie, ja, sie kenne ihn.
Ich spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg, und ließ ein paar Sekunden verstreichen, ehe ich so, als erinnerte ich mich plötzlich wieder, worüber wir gesprochen hatten, fragte: »Wo hast du ihn kennengelernt?«
Clara erklärte, Professor Asher sei ein Freund ihrer Mutter und komme manchmal zu Besuch. Doch das Gespräch erregte sie zu sehr – sie meinte, es gehöre sich nicht für sie, über dieses Thema zu sprechen (auch sie hatte gesehen, wie die Hände unter dem Leuchter zusammengefunden hatten) –, und sie begann zu weinen.
»Clara, Liebes«, sagte ich. »Ich wollte dir nicht das Herz schwermachen.«
»Warum tut ihr mir das an, du und Mutter?« Sie weinte wie ein kleines Kind, schniefend und geräuschvoll.
»Wir wollen dir nichts antun«, entgegnete ich. »Es ist einfach so, daß wir beschlossen haben, vorläufig getrennt zu leben.«
»Gar nicht wahr!« widersprach sie mit dem besseren Wissen der scharfen Beobachterin. »Mutter ist schuld. Du möchtest, daß wir zurückkommen. Das weiß ich.«
»Ja«, antwortete ich. »Das möchte ich.«
»Warum hast du Nicky zu dir geholt und mich nicht?« fragte sie immer noch weinend.
Mir war klar, daß dies der Kern von Claras Zorn war. »Nicky ist noch klein«, erklärte ich, um eine Antwort bemüht.
»Du magst ihn lieber als mich!« warf sie mir vor.
»Nein, Clara, das stimmt nicht«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Ich habe euch beide gleich lieb.«
Ich griff über den Tisch und nahm ihre Hand in die meine, da ich sie an diesem öffentlichen Ort nicht gut umarmen konnte. Die Berührung tröstete sie ein wenig, so daß ich ihre Hand nur ungern wieder losließ.
In diesem Moment ging ein Mann, der gerade das Restaurant betreten hatte – ein Mann, den ich nie gesehen hatte –, an unserem Tisch vorüber und sah Clara an. Es war ein dezenter Blick, nicht aufdringlich in seiner Kürze. Doch als ich mich Clara wieder zuwandte, sah ich, was er gesehen hatte. Die vollen Lippen. Den knospenden Busen unter dem Pullover ihrer Schulkleidung. Vielleicht auch noch die schlanke Taille. Zum erstenmal sah ich meine Tochter so, wie Männer sie in den kommenden Jahren sehen würden.
»Vater«, sagte sie, nachdem sie sich geschneuzt hatte, »warum starrst du mich so an?«
Ich zwang mich, den Blick abzuwenden. Ich musterte den Fremden, der sich gesetzt hatte, ohne zu ahnen, daß er eine Intrige in Gang gesetzt hatte.
Ein Plan begann sich zu formen. Eine Geschichte entspann sich quer durch den Speisesaal.
»Clara«, sagte ich. »Ich glaube, ich weiß ein Mittel, um deine Mutter zurückzuholen.«
Mit Tränen in den Augen sah meine Tochter mich an.
Am Morgen versandte ich drei Briefe: einen an meine Frau; einen an den Präsidenten des College; und einen an den Leiter der Polizeidienststelle Thrupp.
»Meine Tochter Clara hat mir etwas äußerst Bedenkliches zur Kenntnis gebracht«, schrieb ich.
Die Zugfahrt schläfert mich ein. Es ist die Hitze. Man hat mir gesagt, daß wir die Grenze zu Florida überquert haben. Ich glaube es gern, denn in meinem Abteil ist es trotz des halbgeöffneten Fensters (die Fenster weiter zu öffnen ist nicht erlaubt; vermutlich damit niemand auf den Gedanken kommt hinauszuspringen) erstickend schwül. Heute morgen haben wir in Yemassee gehalten, wo sich uns ein ungewohnter Anblick bot – Neger, die auf den Schultern riesige Bananenstauden zu einem Güterzug schleppten, der auf dem Gleis neben uns stand. Sie wirkten erschöpft und resigniert in der glühenden Hitze.
Überall im Zug legen Männer Kleidungsstücke ab – wie Knaben vor dem Sprung in einen Badesee. Zuerst wird das Jackett ausgezogen. Dann wird die Krawatte gelockert. Danach werden die Manschetten geöffnet und die Hemdsärmel aufgerollt. Ich habe einen Mann gesehen, der sogar seine Hosenträger abgenommen hatte. Mit den Kleidern werden offenbar die Manieren abgeworfen, die Stimmung der Leute ist merklich gereizter als während der bisherigen Fahrt. Ein Mann putzte einen Schaffner herunter, weil er ihm ein Getränk ohne Eis brachte (das Eis scheint in Georgia geschmolzen zu sein). Ich habe versucht zu schlafen, wurde aber viel zu bald wieder wach. Meine seidene Schlafmaske war von Schweiß und Tränen durchtränkt.
Wird meine Tochter zu der Beerdigung kommen, wenn ich da bin? Diese Frage quält mich
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