Alles was ich sage ist wahr
Oma die Augen geschlossen. Sie öffnet sie erst, als ich sie ganz vorsichtig an der Schulter berühre.
»So«, sage ich. »Der Krankenwagen ist auf dem Weg. Willst du versuchen, aus dem Bad zu kommen und dir was anzuziehen?«
Ich schiebe meine Arme unter ihre Achseln, um ihren Oberkörper aufzurichten. Das ist schwer. Obwohl sie so klein und dünn ist, scheint sie in diesem Moment eine halbe Tonne zu wiegen, und ich breche mir schier einen ab, wenigstens ihren Oberkörper aus der nassen Pfütze zu heben, in der sie liegt. Sie jammert ununterbrochen.
»Tut es sehr weh?«, frage ich, und da öffnet sie den Mund und schreit.
Sie schreit einfach los, brüllt regelrecht, das ist so furchtbar, dass ich sie um ein Haar fallen lasse, um mir die Ohren zuzuhalten und den Ton auszusperren. Ich habe meine Oma noch nie schreien hören.
»Das geht nicht«, schluchze ich. »Ich kann dich nicht hochheben.«
Ich lege sie ganz vorsichtig wieder auf dem Badezimmerboden ab und strecke mich neben ihr aus, lege mich neben sie auf den nassen Boden, so nah an sie geschmiegt, wie ich es wage, und lege einen Arm um sie, ziehe ihr die Duschhaube vom Kopf und bohre meine Nase in ihr fast weißes Haar.
»Tut mir leid«, flüstere ich. »Tut mir leid, tut mir leid, tut mir leid. Aber ich schaffe das nicht allein. Wir müssen auf den Krankenwagen warten.«
Sie wimmert ganz leise, sagt aber nichts. Und so liegen wir da. Eine Sechzehnjährige in nassen Klamotten und eine nackte Vogeloma mit gebrochenem Bein auf den kalten Badezimmerfliesen. Und ich denke: Das ist ein Augenblick, den ich nie mehr wieder vergessen werde. Selbst wenn ich es versuche.
* * *
Erst als die Sanitäter da sind, Oma in Decken eingewickelt und auf eine Trage gelegt haben und wir auf dem Weg ins Krankenhaus sind, fällt mir ein, dass ich Mama anrufen muss. Das hier gehört definitiv zu den Dingen, über die Mütter so schnell wie möglich informiert sein wollen. Auf der Stelle.
»Mama?«
Kaum höre ich ihre Stimme, ertappe ich mich dabei, dass ich befürchte, sie könnte sauer auf mich sein. Weshalb? Weil ich sie nicht eher angerufen habe? Weil ich nicht eher nach Hause gekommen bin und Oma früher gefunden habe? Weil ich zugelassen habe, dass das passiert? Ich weiß es nicht.
»Mama! Oma hatte einen Unfall.«
Es ist totenstill am anderen Ende.
»Sie ist gestürzt«, sage ich und registriere, dass ich wieder anfange zu weinen. Das ärgert mich. Wie viel Tränenflüssigkeit hab ich denn noch in mir drin?
Ich höre Mama tief Luft holen.
»Oh Gott«, sagt sie.
»Ich konnte nichts dafür«, schniefe ich. »Ich schwöre! Meine Schuhe haben nichts damit zu tun! Sie ist in der Dusche ausgerutscht, und ich habe nichts mitbekommen, weil ich bei der Arbeit war. Ich hab sie erst gefunden, als ich nach Hause gekommen bin. Ich wusste von nichts!«
Mama stolpert über ihre Worte.
»Aber wo ist … was …«
»Wir sitzen im Krankenwagen«, bringe ich heraus.
»Aber was … ist sie …?«
»Ich glaube, sie hat das Bein gebrochen«, sage ich.
»Aber sie lebt ?«
Mamas Stimme ist so zerbrechlich.
»Ja«, sage ich und lächele durch die Tränen, weil es bei mir auch noch gar nicht richtig angekommen ist. »Sie lebt.«
Es macht einen merkwürdigen Ton, als Mama die Luft aus den Lungen lässt, und dann höre ich so etwas wie einen Schluchzer.
»Ich komme«, sagt sie. »Zum Krankenhaus. Ich komme sofort.«
* * *
Es ist schon seltsam, wie schnell die Dinge sich ändern können. Vor etwas mehr als einer Stunde hatte ich noch Kohlensäure im Blut und das Lachen ist mir aus den Ohren gequollen, weil mich ein griechischer Gott berührt hat. Jetzt sitze ich im Wartezimmer eines Krankenhauses und fühle mich so weit weg von Kohlensäureprickeln wie nur möglich. Der türkisfarbene Lackfleck auf dem Handrücken ist noch da, aber an den Rest erinnere ich mich kaum noch. Mama soll kommen. Ich weiß, ich klinge wie eine Fünfjährige, die noch alle Milchzähne hat, aber das ist mir scheißegal. Mama soll kommen, weil ich die ungefragte Rolle der Erwachsenen und Verantwortlichen nicht länger spielen will, ich will, dass mir jemand übers Haar streichelt. Hallo, ich bin sechzehn! Da sollten meine schlimmsten Probleme darin bestehen, dass ich … was weiß denn ich? Dass ich es nicht mehr geschafft habe, die Haare zu waschen und mit fettigen Strähnen raus- muss (peinlich), dass die Hose, die ich zur Fete anziehen wollte, in der Wäsche liegt (Lebenskrise) oder dass ich vergessen
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