Alles was ich sage ist wahr
habe, dass die erste Stunde ausfällt, und völlig sinnlos zu früh in der Schule aufschlage (nervig). Solche Sachen halt. Aber doch nicht, dass ich meine halb tote Oma auf dem Badezimmerboden finde und einen Krankenwagen rufen muss. Das ist Erwachsenen-Stuff. Ich bin noch nicht so weit, okay?
* * *
»Alicia!«
Mama läuft mir durch die automatischen Türen entgegen, und im nächsten Augenblick bin ich da, wo ich mich am sehnlichsten hingewünscht habe: in ihren Armen, ihr kleines Mädchen.
»Mein armer, armer Schatz!«
Ich wünschte, wir könnten ewig so stehen bleiben.
Aber das können wir nicht.
»Wo ist Oma?«, fragt Mama schon nach wenigen Sekunden und sieht sich suchend um. »Wie geht es ihr? Was machen sie mit ihr?«
Ich zucke mit den Schultern, weil ich kaum etwas weiß. Als wir angekommen sind, hat ein Arzt Oma mit in einen Untersuchungsraum genommen. Ich sollte im Wartezimmer warten, hat er gesagt. Mama läuft zum Empfang und erkundigt sich, ob sie dort mehr wissen, aber das wissen sie natürlich nicht. Wir müssen uns gedulden, bis der Arzt kommt und uns informiert.
Mama reibt nervös die Hände.
»Was ist denn bloß passiert, Alicia?«
Es tut gut, endlich mit jemandem reden zu können, und ich erzähle ihr jedes noch so kleine Detail. Wie dunkel es in der Wohnung war, als ich nach der Arbeit nach Hause gekommen bin. Wie ich reagiert habe, als ich Oma im Badezimmer entdeckt habe. Und wie ich den Notdienst angerufen habe. Wie Oma geschrien hat, als sie sie auf die Trage gehoben haben. Und wie blass und alt sie aussah, als sie dort lag, festgezurrt unter einer Decke. Wie sie bei jedem Ruckeln des Krankenwagens gejammert hat. Dass sie so mitgenommen war, dass sie nicht einmal ihre Personennummer aufsagen konnte, als das Krankenhauspersonal sie danach gefragt hat, und dass ich auch keine Hilfe war, denn welche Sechzehnjährige kann schon die Personennummer ihrer Großmutter auswendig? Ich jedenfalls nicht.
All das erzähle ich Mama mit ausladenden Gesten. Das Einzige, was ich nicht erzähle, ist, wie sehr Oma sich wegen ihrer Nacktheit geschämt hat, irgendwie ist das etwas Privates zwischen ihr und mir. Aber sonst: alles. Und es hat genau die Wirkung, die ich mir erhofft hatte.
»Mein Schatz!«
Mama sieht mich mit vor Stolz feuchten Augen an.
»Das hast du wirklich gut gemacht!«
Ich nicke und lehne meine Stirn wieder an ihre Schulter und sauge so viel Fünfjährigennähe aus der Umarmung auf, wie ich kann.
* * *
Ich fahre mit Mama nach Hause. Oma behalten sie da, weil sie operiert werden muss, ihr Oberschenkelknochen ist gebrochen. Im Moment können wir im Krankenhaus wenig ausrichten und ich will nicht alleine zurück in Omas Wohnung. Ich bin nicht sicher, ob ich überhaupt wieder dorthin zurück will, merke ich. Die Wohnung kommt mir wie das reinste Traumazentrum vor, wenn ich daran denke. Das Bild von meiner nackten, wie tot aussehenden Oma auf dem Badezimmerboden hat sich in meine Netzhaut eingebrannt.
»Wir fahren morgen zusammen hin und holen deine Sachen«, sagt Mama entschieden, als wir im Auto sitzen. »Aber jetzt fahren wir nach Hause und schlafen.«
Ich sage nichts, gehorche einfach.
* * *
Auf meinem Bett liegt ein Bettüberwurf und auf dem Boden keine einzige Klamotte. Ansonsten sieht mein Zimmer aus wie immer, das Haus, mein Zuhause. Es ist gerade mal drei Tage her, dass ich mich zuletzt widerwillig hierhergeschleppt habe. Es kommt mir vor wie tausend Jahre. Als ich mich ausgezogen und unter meine Decke gekuschelt habe, merke ich, wie gut es tut, hier zu sein. Schon merkwürdig, was so ein Badezimmertrauma mit einem Menschen macht. Bin ich nicht eben erst hier ausgezogen, weil ich es unerträglich fand?
Ich schnappe mir mein Handy und simse an Fanny.
Wach? Oma ist im Krankenhaus. Melde dich!
Wahrscheinlich schläft sie längst wie die meisten anderen Menschen um diese Zeit, da mein Handy schweigt. Schön für Fanny.
Die Bettdecke ist so luftig leicht! Ungewohnt. Obwohl ich nur einen Monat bei Oma gewohnt habe, habe ich mich an so vieles gewöhnt. Decken haben schwer und steif zu sein! Nicht so wie die hier! Ich trete die Luftigkeit ein paar Mal, als Strafe sozusagen, und drehe mich ein paar Mal hin und her. Finde keine bequeme Schlafstellung. Kann mich nicht entspannen. Und jedes Mal, wenn ich die Augen zumache, bin ich zurück auf dem Badezimmerboden, und der Badezimmerboden ist DEFINITIV KEIN LIEBLINGSPLATZ VON MIR, OKAY?
Ich versuche, stattdessen an Isak zu denken.
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