Alles, was ist: Roman (German Edition)
sprach kein Französisch, und ihr Bild von der Stadt beschränkte sich auf ein paar Alleen ohne Anfang oder Ende, bestimmte Metrostationen oder Schilder – Taittinger, La Coupole – und Straßen, die ihr aufgefallen waren. Nichts davon fügte sich zu einem Bild zusammen, vor allem nicht am Abend, wenn sie getrunken hatte. Sie fuhren zurück ins Hotel, die Geschäfte flogen vorbei, wie immer hell erleuchtet. Sie schienen ihr irgendwie vertraut.
»Wo sind wir?«, sagte sie.
»Ich kann die Schilder nicht erkennen. Ich glaube, wir sind auf dem Boulevard de Sébastopol.«
»Und wo ist der?«
»Das ist einer der großen Boulevards, er führt direkt auf den Boulevard Saint-Michel.«
Sie hätte so etwas niemals tun können, dachte sie. Sie hätte es niemals von sich aus getan. Es war noch immer unglaublich und doch so einfach. Sie würde sich lange daran erinnern. Sie könnte, wenn sie wollte, wahrscheinlich noch ein paar Monate mit ihm zusammenbleiben. Sie hatte schon Freunde gehabt, na ja, zumindest zwei, aber damals war es anders. Sie waren noch sehr jung. Hast du die Kondome besorgt ? – man bekam sie im Krankenhaus umsonst, aber manchmal hatten sie keine mehr. Sie nahmen immer eine Handvoll, doch dann war es meistens schnell vorbei. Sie sah etwas, das sie wiedererkannte, und überlegte, wo sie waren. Sie überquerten die Seine und bogen in eine weitere Straße. Über den Häusern sah man die Spitze des Eiffelturms hell erleuchtet im Dunkeln schweben.
Im Zimmer legte sie sich in ihren Kleidern aufs Bett und ließ sich von ihm ausziehen. Er streichelte sie lange, und sie machte deutlich, dass sie ihm gehörte. Er fuhr mit der Zunge an ihrer Spalte entlang. Er drehte sie um und legte die Hände auf ihre Schultern, strich langsam an ihrem Körper herunter, als wäre er ein Gänsehals. Als er schließlich in sie eindrang, war es, als spräche er. Er dachte an Christine. Vergebung. Er wollte, dass es lange dauerte. Als er merkte, dass er zu weit ging, wurde er langsamer und begann von neuem. Er konnte hören, dass sie etwas ins Kissen sprach. Er hielt sie an der Taille. Ah, ah, ah. Die Wände brachen zur Seite. Die Stadt fiel in sich zusammen wie die Sterne.
»Ah, Gott«, sagte er danach. »Anet.«
Sie lag in seinen Armen.
»Du bist schon was Besonderes.«
Die späte Stunde. Die absolute Vollendung. Er hatte Glück, dachte er. In ein oder zwei Tagen würde sie wahrscheinlich Opern wie dieser überdrüssig. Sie würde plötzlich erkennen, wie alt er war, wie sehr sie ihre Freunde vermisste. Aber es würde in ihrem Leben bleiben. Es würde in dem ihrer Mutter bleiben. Er strich ihre Haare glatt. Sie entspannte sich im Schlaf.
Sie schlief bis neun. Das Zimmer war still. Er war nach unten gegangen, um einen Blick in die Zeitung zu werfen, und sie drehte sich um und schlief noch ein bisschen weiter. Als sie aus dem Badezimmer kam, sah sie auf seiner Seite des Betts einen Zettel. Sie hob ihn auf und während sie las, sackte ihr das Herz weg. Sie zog sich schnell etwas an, um nach unten zur Rezeption zu gehen. Der Aufzug fuhr gerade. Sie konnte nicht warten und rannte die Treppen hinunter.
»Haben Sie Monsieur Bowman gesehen?«, fragte sie den Mann am Empfang.
»Ah, ja. Er ist gegangen.«
»Er ist gegangen? Wohin?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Er hat ein Taxi genommen.«
»Wann war das?«
»Vor einer Stunde etwa, vielleicht etwas länger.«
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie konnte es nicht glauben. Sie hatte anscheinend etwas nicht mitbekommen. Sie ging zurück aufs Zimmer und setzte sich auf das Bett, Übelkeit stieg in ihr auf. Jetzt bemerkte sie auch, dass seine Sachen weg waren. Sie sah im Badezimmer nach. Dort war es das Gleiche. Sie hatte plötzlich Angst. Sie war allein. Sie hatte kein Geld. Sie nahm den Zettel noch einmal auf und las. Ich fahre . Ich kann es dir jetzt nicht erklären. Es war sehr schön. Unterschrieben mit einer Initiale, P . Diesmal brach sie in Tränen aus. Sie fiel auf das Bett zurück und blieb liegen.
Er hatte einen Autoverleih aufgesucht und sich einen Wagen genommen, einen größeren, als er wollte, aber es war der einzige, den sie hatten, und es war eine lange Fahrt. Er verließ die Stadt über die Porte d’Orléans und fuhr südlich Richtung Chartres und dahinter liegenden Städten entgegen, in denen er noch nie gewesen war. Der Tag war sonnig und klar. Er hatte die vage Idee, bis nach Biarritz zu fahren, mit den zwei großen Stränden wie Flügel zu beiden
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