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Alles zerfällt: Roman (German Edition)

Alles zerfällt: Roman (German Edition)

Titel: Alles zerfällt: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chinua Achebe
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eine der leichteren Arbeiten der Nacherntewochen. Auf die Lehmmauern wurde zum Schutz vor der nächsten Regenzeit eine neue, dichte Schicht Palmwedel aufgebracht. Okonkwo arbeitete außen, die beiden Jungen innen. In der Mauerkrone reichten kleine Löcher von der einen Seite bis zur anderen, und durch sie führte Okonkwo den tie-tie [77]   , den Strick, den die Jungen dann über die Bedeckung an ihn zurückreichten; so verstärkten sie den Schutz der Mauer.
    Die Frauen waren in den Busch gegangen, um Feuerholz zu sammeln, und die kleineren Kinder besuchten ihre Spielkameraden in den benachbarten Höfen. Der Harmattan lag in der Luft und verlieh der Welt eine schläfrige Unschärfe. Okonkwo und die Jungen arbeiteten in vollkommener Stille, unterbrochen nur vom Rascheln, wenn ein neuer Palmwedel auf die Mauer gehoben wurde oder wenn ein rastloses Huhn auf der Suche nach Nahrung in trockenem Laub scharrte.
    Und dann, ohne Vorwarnung, fiel ein Schatten auf die Welt, die Sonne verschwand hinter dichten Wolken. Okonkwo blickte von der Arbeit auf und fragte sich verwundert, ob es etwa ganz entgegen der Jahreszeit regnen würde. Doch im selben Moment brach rings um sie herum Jubel aus, und Umuofia, das in der diesigen Mittagsstunde gedöst hatte, erwachte zu geschäftigem Leben.
    »Die Heuschrecken landen!«, ging es um, und Männer, Frauen und Kinder ließen Arbeit oder Spiel liegen und liefen ins Freie, das Niegesehene zu sehen. Die Heuschrecken waren viele, viele Jahre nicht mehr gekommen, nur die sehr Alten hatten sie je gesehen.
    Zuerst traf ein eher kleiner Schwarm ein. Es war die Vorhut, ausgesandt, das Land zu erkunden. Dann setzte sich am Horizont eine träge Masse in Bewegung – als treibe auf Umuofia eine endlose schwarze Wolkenfront zu. Sie verschlang bald den halben Himmel, dann zerfiel die geschlossene Masse zu Abertausenden von winzigen Lichtaugen, die funkelndem Sternenstaub glichen. Es war ein gewaltiger Anblick, voller Kraft und Schönheit.
    Nun war alles auf den Beinen, man rief aufgeregt durcheinander und betete, dass die Heuschrecken sich über Nacht in Umuofia niederlassen würden. Denn selbst wenn die Heuschrecken das Dorf seit vielen Jahren nicht mehr aufgesucht hatten, wusste doch jeder instinktiv, dass sie Leckerbissen abgaben. Und schließlich landeten die Heuschrecken tatsächlich. Sie saßen in allen Bäumen, auf jedem Grashalm, sie bedeckten die Dächer und die nackte Erde. Dicke Äste brachen unter ihrem Gewicht, und das ganze Land nahm die lehmbraune Farbe des riesigen, hungrigen Schwarms an.
    Viele Dorfbewohner liefen mit Körben hinaus, sie zu fangen, doch die Ältesten rieten zur Geduld, man solle bis zum Anbruch der Nacht warten. Sie hatten recht. Die Heuschrecken begaben sich im Busch zur Ruhe, und Tau beschwerte ihre Flügel. Da machte sich trotz des kalten Harmattans ganz Umuofia auf und füllte Säcke und Krüge randvoll mit Heuschrecken. Am Morgen wurden sie in Tontöpfen geröstet und dann zum Trocknen in der Sonne ausgebreitet, bis sie dörr und brüchig wurden. Und viele Tage lang wurde die seltene Speise mit gehärtetem Palmöl genossen.
    Okonkwo saß in seinem obi , knusperte zufrieden mit Ikemefuna und Nwoye und trank reichlich Palmwein dazu, als Ogbuefi Ezeudu die Hütte betrat. Ezeudu war der älteste Mann in ihrem Viertel Umuofias. Er hatte sich seinerzeit als großer und furchtloser Krieger hervorgetan, und er genoss die Achtung des ganzen Klans. Er schlug die Einladung, mit ihnen zu essen, aus und bat Okonkwo auf ein Wort nach draußen. Sie gingen gemeinsam ein Stück, der Alte auf seinen Stock gestützt. Als sie außer Hörweite des obi waren, sagte Ezeudu zu Okonkwo:
    »Der Junge nennt dich Vater. Du darfst mit seinem Tod nichts zu schaffen haben.«
    Okonkwo war überrascht und wollte sprechen, doch der alte Mann kam ihm zuvor: »Ja, Umuofia hat seinen Tod beschlossen. Das Orakel der Hügel und Höhlen hat es so bestimmt. Man wird ihn aus Umuofia hinausführen, wie es Sitte ist, und ihn töten. Aber ich möchte nicht, dass du damit zu schaffen hast. Er nennt dich Vater.«
    Am nächsten Tag kamen Älteste aus allen neun Dörfern in aller Frühe nach Umuofia zu Okonkwo, doch ehe sie leise ihre Unterhaltung aufnahmen, schickten sie Nwoye und Ikemefuna hinaus. Die Besucher brachen bald wieder auf, nur Okonkwo rührte sich lange nicht von der Stelle, sondern saß da, das Kinn in die Hände gestützt. Nach einiger Zeit rief er Ikemefuna zu sich und teilte ihm mit, er werde

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