Alles zerfällt: Roman (German Edition)
quälen.«
Ezinma sah ihre Mutter an, deren Augen so bekümmert und flehentlich auf ihr ruhten.
»Antworte!«, brüllte Okonkwo, der neben ihr stand. Die ganze Familie hatte sich eingefunden, und auch einige Nachbarn.
»Überlass das Kind mir«, sagte der Heiler in kühlem, selbstgewissem Ton zu Okonkwo. Er wandte sich wieder Ezinma zu. »Wo hast du dein iyi-uwa vergraben?«
»Wo sie Kinder begraben«, antwortete sie, und ein Raunen ging durch die Umstehenden.
»Dann komm und zeige mir die Stelle«, sagte der Heiler.
Alle zogen hinaus, Ezinma vorweg, dicht gefolgt von Okagbue, dann Okonkwo und hinter diesem Ekwefi. Als sie zum Hauptpfad kamen, wandte sich Ezinma nach links, als wolle sie zum Fluss.
»Hast du nicht gesagt dort, wo sie Kinder begraben?«, fragte der Heiler sie.
»Nein«, sagte Ezinma, deren federnder Gang verriet, wie wichtig sie sich vorkam. Manchmal lief sie ein Stück voraus und blieb dann schlagartig stehen. Alle folgten ihr schweigend. Frauen und Kinder, die mit Wasserkrügen auf dem Kopf vom Fluss zurückkehrten, fragten sich, was los sei – bis sie Okagbue erblickten und wussten, dass es irgendetwas mit ogbanje zu tun haben musste. Schließlich kannte jedermann Ekwefi und ihre Tochter sehr gut.
Als sie den großen Udala-Baum erreichten, drehte Ezinma nach links in den Busch ab, und alle folgten. Wegen ihrer geringen Größe wand Ezinma sich schneller zwischen Bäumen und Lianen hindurch als ihr Gefolge. Der ganze Wald raschelte vor Schritten auf trockenem Laub, knackenden Zweigen und beiseitegeschobenen Ästen. Ezinma drang tiefer und tiefer in den Busch ein, und alle folgten. Dann plötzlich kehrte sie um und ging wieder Richtung Pfad. Alle blieben stehen, um sie vorbeizulassen, dann folgten sie ihr.
»Wenn du uns alle umsonst so weit herausgeführt hast, werde ich dir Vernunft einprügeln«, drohte Okonkwo.
»Ich habe dich gebeten, sie in Ruhe zu lassen. Ich weiß, wie man mit ihnen umgeht«, sagte Okagbue.
Ezinma führte sie zum Pfad zurück, blickte nach links und nach rechts, und entschied sich für links. Und so kehrten sie auf den Hof zurück.
»Wo hast du dein iyi-uwa vergraben?«, fragte Okagbue, als Ezinma schließlich vor dem obi ihres Vaters stehenblieb. Okagbues Stimme blieb unverändert ruhig und selbstgewiss.
»Beim Orangenbaum«, sagte Ezinma.
»Und warum hast du das nicht gleich gesagt, du ungehörige Tochter Akalogolis [97] ?« Okonkwo fluchte. Der Heiler beachtete ihn nicht.
»Komm und zeig mir die Stelle«, drängte er Ezinma sanft.
»Hier«, sagte sie, als sie an dem Baum standen.
»Zeige mit dem Finger auf die Stelle«, sagte Okagbue.
»Hier«, sagte Ezinma und berührte mit ihrem Finger die Erde.
Okonkwo stand grollend dabei wie Donner zur Regenzeit.
»Bringt mir eine Hacke«, sagte Okagbue.
Als Ekwefi ihm die Hacke brachte, hatte er bereits seinen Ziegenlederbeutel und sein großes Tuch abgelegt und trug nur noch Unterkleidung: einen langen, schmalen Tuchstreifen, der wie ein Gürtel um die Taille gebunden, dann zwischen den Beinen hindurch geführt und hinten am Steiß befestigt war. Er begann sogleich, an der von Ezinma bezeichneten Stelle eine Grube auszuheben. Die Nachbarn ließen sich im Kreis nieder und beobachteten, wie die Grube immer tiefer wurde. Der dunkle Oberboden wich bald schon dem roten Lehm, mit dem die Frauen die Böden und Wände der Hütten bestrichen. Okagbue grub unermüdlich und schweigend mit schweißglänzendem Rücken. Okonkwo stand am Rand der Grube. Er bat Okagbue, eine Rast einzulegen und ihm die Arbeit zu überlassen. Doch Okagbue sagte, er sei noch nicht müde.
Ekwefi ging in ihre Hütte, um Yams zu kochen. Ihr Mann hatte mehr Yams als gewöhnlich bereitgelegt, weil der Heiler verpflegt werden musste. Ezinma begleitete sie und half bei der Zubereitung des Gemüses.
»Es ist zu viel Grün«, sagte sie.
»Siehst du nicht, dass der Topf voller Yams ist?«, fragte Ekwefi. »Und du weißt, dass Blätter beim Kochen zusammenfallen.«
»Ja«, sagte Ezinma. »Deshalb hat die Schlangenechse ihre Mutter getötet.«
»So ist es«, sagte Ekwefi.
»Sie hat ihrer Mutter sieben Körbe Grünzeug zu kochen gegeben, und am Ende waren es nur drei. Da hat sie sie getötet«, sagte Ezinma.
»Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende.«
»Oho«, meinte Ezinma. »Jetzt weiß ich’s wieder. Sie hat noch einmal sieben Körbe gebracht und sie selbst gekocht. Und wieder waren es nur drei. Also hat sie sich selbst
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