Alles zerfällt: Roman (German Edition)
Welt gebracht hatten, als man sie in der Vorzeit gegen Feinde schuf und dann zu beherrschen verlernte. Ekwefi war in einer ähnlich dunklen Nacht mit ihrer Mutter vom Fluss zurückgekehrt, als sie den Schimmer auf sich zufliegen sahen. Sie hatten ihre Wasserkrüge hingeworfen und in der bangen Erwartung, das böse Licht werde über sie kommen und sie töten, neben dem Pfad gelegen. Das war das einzige Mal gewesen, dass Ekwefi Ogbu-agali-odu erblickt hatte. Und auch wenn es lange her war, gefror ihr das Blut, sobald sie auch nur an jene Nacht dachte.
Die Stimme der Priesterin war jetzt nur noch in weiten Abständen zu hören, doch die Kraft war ungemindert. Die Luft war kühl und feucht vor Tau. Ezinma nieste. Ekwefi murmelte: »Langes Leben.« Im selben Moment sagte auch die Priesterin: »Langes Leben, meine Tochter.« Ezinmas Lebenszeichen aus dem Dunkel wärmte ihrer Mutter das Herz. Sie stapfte weiter.
Und dann schrie die Priesterin auf: »Es folgt mir jemand!«, rief sie. »Seist du Geist, seist du Mensch, möge Agbala deinen Kopf mit einer stumpfen Klinge rasieren! Möge er dir den Hals verdrehen, bis du deine Fersen erblickst!«
Ekwefi blieb wie angewurzelt stehen. Eine Stimme im Innern mahnte sie: ›Weib, kehr um, ehe Agbala dir schadet.‹ Aber sie konnte nicht. Sie verharrte, bis Chielo sich weiter entfernt hatte, dann nahm sie die Verfolgung wieder auf. Sie war schon so lange gegangen, dass ihre Glieder und ihr Kopf ganz taub waren. Da dämmerte ihr, dass sie sich nicht auf die Höhle zu bewegt haben konnten. Sie mussten schon längst daran vorbei sein; sie hielten auf Umuachi [109] zu, das fernste der Dörfer des Klans. Chielos Stimme war wieder nur in weiten Abständen zu hören.
Ekwefi schien es, als hellte die Nacht sich auf. Die Wolke hatte sich verzogen, es zeigten sich ein paar Sterne. Der Mond bequemte sich aufzugehen, überwunden sein Unmut. Wenn der Mond spätnachts aufging, sagte man, er verweigere die Nahrung wie ein Mann nach einem Streit aus Unmut die Speisen seiner Frau.
Agbala do-o-o-o! Umuachi! Agbala eken ununo-o-o! Ekwefi hatte recht gehabt. Die Priesterin grüßte nun das Dorf Umuachi. Unglaublich, die Entfernung, die sie zurückgelegt hatten. Als sie vom schmalen Urwaldpfad ins offene Dorf traten, wurde die Dunkelheit milder, die Umrisse der Bäume zeichneten sich ab. Ekwefi kniff die Augen zusammen und spähte nach ihrer Tochter und der Priesterin, doch immer, wenn sie glaubte, ihre Gestalten zu entdecken, lösten sie sich augenblicklich wie ein schmelzender Klumpen Nacht auf. Sie schleppte sich weiter.
Chielos Anrufe rissen jetzt, wie zu Beginn des Marschs, nicht mehr ab. Ekwefi spürte um sich eine Weite und erriet, dass sie den ilo des Dorfs erreicht hatten, den Platz der Aufführungen und der Spiele. Und es durchzuckte sie zugleich die Erkenntnis, dass Chielo nicht weiterging. Sie kehrte im Gegenteil um. Rasch wich Ekwefi aus ihrer Bahn. Chielo zog an ihr vorüber, und so traten sie nun den Rückweg an.
Es war ein langer, ermüdender Marsch, und Ekwefi kam sich den Großteil des Weges vor wie eine Schlafwandlerin. Der Mond stieg unverkennbar, und obwohl er am Himmel noch nicht zu sehen war, lockerte sein Licht bereits die Dunkelheit. Ekwefi konnte vor sich die Gestalt der Priesterin und ihrer Last deutlich ausmachen. Sie verlangsamte ihren Schritt, um den Abstand zu vergrößern. Sie fürchtete die Folgen, wenn sich Chielo plötzlich umdrehen und sie sehen sollte.
Sie hatte gefleht, dass der Mond aufgehen möge. Jetzt aber fand sie das Halblicht des lauernden Mondes noch schrecklicher als das Dunkel. Die Welt war mit flüchtigen, unwirklichen Gestalten bevölkert, die sich bei näherem Hinsehen auflösten und neu formten. Zwischendurch fürchtete sich Ekwefi so sehr, dass sie Chielo schon um der Gesellschaft und des menschlichen Trosts willen um ein Haar zugerufen hätte. Sie hatte nämlich die Gestalt eines Mannes gesehen, der kopfüber, mit den Beinen voran eine Palme bestieg. Doch just in diesem Moment stimmte Chielo erneut ihren besessenen Singsang an, und Ekwefi schrak zurück, denn er bot keinen menschlichen Trost. Das war nicht jene Chielo, die neben ihr auf dem Markt saß, die gelegentlich Bohnenküchlein für Ezinma kaufte und sie Tochter nannte. Das war eine ganz andere Frau – die Priesterin des Agbala, Orakel der Hügel und Höhlen. Ekwefi stapfte zwischen zwei Ängsten weiter. Der Klang ihrer eigenen betäubten Schritte schien zu einer unsichtbaren
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