Alles zerfällt: Roman (German Edition)
Hüte dich, Weib, sonst geht sein Zorn auf dich nieder. Bring mir meine Tochter.«
Ekwefi verschwand in ihrer Hütte und kehrte mit Ezinma zurück. »Komm, meine Tochter«, sagte die Priesterin. »Ich werde dich auf dem Rücken tragen. Ein Kind auf dem Rücken der Mutter weiß nichts von der Länge des Weges.«
Ezinma begann zu weinen. Zwar war sie es gewohnt, von Chielo ›meine Tochter‹ genannt zu werden. Doch dies hier im gelben Zwielicht war eine andere Chielo.
»Weine nicht, meine Tochter«, sagte die Priesterin. »Damit dir Agbala nicht zürnt.«
»Weine nicht«, sagte Ekwefi. »Sie bringt dich gleich wieder. Ich gebe dir Fisch mit.« Sie verschwand in ihrer Hütte und holte den rußschwarzen Korb herunter, in dem sie ihren Trockenfisch und andere Zutaten für Suppen aufbewahrte. Sie brach einen Fisch entzwei und reichte das eine Stück der sich an sie klammernden Ezinma.
»Hab keine Angst«, beschwor Ekwefi sie und strich ihr über den Kopf, der zum Teil geschoren war, sodass das übrige Haar Muster ergab. Sie gingen hinaus.
Die Priesterin ging auf ein Knie herunter, und Ezinma kletterte auf ihren Rücken, die Faust fest um den Fisch geschlossen, in den Augen Tränen.
Agbala do-o-o-o! Agbala ekeneo-o-o-o! Wieder brachte Chielo im Singsang die Grußformeln für ihren Gott vor. Sie fuhr herum und durchschritt, sich tief unter dem Dachvorsprung beugend, erneut Okonkwos obi . Ezinma schluchzte nun laut und rief nach ihrer Mutter. Die beiden Stimmen wurden vom dichten Dunkel verschluckt.
Eine seltsame Müdigkeit befiel Ekwefi plötzlich, als sie den Stimmen nachblickte wie eine Glucke, deren einziges Küken der Milan geholt hatte. Bald war von Ezinmas Stimme nichts mehr zu vernehmen, nur Chielo hörte man weiter und weiter wegziehen.
»Warum stehst du da, als hätte man sie entführt?«, fragte Okonkwo, der sich wieder auf den Weg in seine Hütte machte.
»Sie bringt sie gewiss bald wieder«, sagte Nwoyes Mutter.
Doch Ekwefi hörte die tröstenden Worte nicht. Sie blieb noch ein Weilchen stehen, dann, plötzlich, traf sie ihre Entscheidung. Sie eilte durch Okonkwos obi hinaus. »Wo willst du hin?«, fragte er.
»Ich gehe Chielo nach«, antwortete sie und verschwand im Dunkeln. Okonkwo räusperte sich und holte aus dem Ziegenlederbeutel neben sich seine Schnupfflasche.
Die Stimme der Priesterin verlor sich bereits in der Ferne. Ekwefi hastete zum Hauptpfad und wandte sich nach links in die Richtung des schwächer werdenden Nachhalls. Im Dunkeln waren ihre Augen kaum von Nutzen. Doch auf dem sandigen, auf beiden Seiten von Zweigen und feuchtem Laub gesäumten Fußpfad fand sie sich leicht zurecht. Sie lief los, ihre Brüste mit den Händen umschließend, damit sie nicht laut gegen den Leib klatschten. Sie stieß mit dem linken Fuß gegen eine Wurzel, und Angst packte sie. Das war ein schlechtes Omen. Sie lief schneller. Doch Chielos Stimme schien noch immer weit weg. Lief auch sie? Wie konnte sie so schnell vorankommen, wo sie doch Ezinma auf dem Rücken trug? Obwohl die Nacht kühl war, fühlte sich Ekwefi von ihrem Lauf erhitzt. Dauernd rannte sie links oder rechts gegen dichtes Gewächs und Schlingpflanzen am Wegrand. Einmal stolperte sie und fiel hin. Da erst bemerkte sie erschrocken, dass Chielos Singsang verstummt war. Ekwefi klopfte das Herz bis zum Hals; sie blieb stehen. Dann brach es erneut aus Chielo hervor, und das nur wenige Schritte vor ihr. Ausmachen aber konnte Ekwefi sie nicht. Sie schloss kurz die Augen und riss sie dann weit auf im Bemühen, etwas zu sehen. Doch es war zwecklos. Sie sah nicht über ihre Nase hinaus.
Es gab keine Sterne am Himmel, weil da eine Regenwolke war. Leuchtkäfer trugen ihre winzigen grünen Lampen umher, doch das machte die Dunkelheit nur noch dichter. Zwischen Chielos Anrufen regte sich die vom Schrillen der Waldinsekten durchwirkte Nacht.
Agbala do-o-o-o! … Agbala ekeneo-o-o-o! … Ekwefi stapfte hinterher, sie schloss nicht auf, sie fiel nicht zurück. Vermutlich hielten sie auf die geweihte Höhle zu. Jetzt, wo sie langsamer ging, hatte sie Zeit, nachzudenken. Was sollte sie tun, wenn sie die Höhle erreichten? Sie würde es nicht wagen, sie zu betreten. Sie würde am Eingang warten müssen, ganz allein an dem furchterregenden Ort. Sie dachte an die vielen Schrecken der Nacht. Sie entsann sich der Nacht vor etlichen Jahren, als sie Ogbu-agali-odu [108] erblickt hatte, einen jener bösen Zauber, den die starken »Mittel« des Stammes über die
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