Alles zerfällt: Roman (German Edition)
so kurz vor dem Ziel gestanden. Dann war alles zerbrochen. Er war aus dem Klan geflogen wie ein Fisch aufs trockene, sandige Ufer, japsend. Offenbar war sein persönlicher Gott, sein chi , nicht für Großes bestimmt. Kein Mann konnte sich über sein chi erheben. Was die Ältesten sagten, stimmte nicht – dass, wenn ein Mann zu seinem chi ja sage, sein chi zustimme. Denn in seinem Fall sagte sein chi trotz der eigenen Bejahung nein.
Der alte Mann Uchendu sah sehr deutlich, dass sich Okonkwo der Verzweiflung hingab, und machte sich große Sorgen. Er würde nach der Zeremonie isa-ifi [125] mit ihm reden.
Der jüngste der fünf Söhne Uchendus, Amikwu, würde sich eine neue Frau nehmen. Der Brautpreis war entrichtet, und alle bis auf die letzte der Feiern waren abgehalten. Amikwu und seine Leute hatten den männlichen Verwandten der Braut etwa zwei Monde vor dem Eintreffen Okonkwos in Mbanta den Palmwein überbracht. Und so war es nun Zeit für die Abschlusszeremonie der Bekenntnisse.
Die Töchter der Familie waren alle zugegen, manche von ihnen weither gekommen aus entlegenen Heimatdörfern. Uchendus älteste Tochter war aus Obondo eingetroffen, fast eine halbe Tagesreise entfernt. Die Töchter der Brüder Uchendus waren ebenfalls da. Die gesamte umuada [126] war versammelt, genauso, wie es bei einem Tod in der Familie der Fall wäre. Es waren zweiundzwanzig.
Sie bildeten einen weiten Kreis, in deren Mitte die Braut mit einem Huhn in der Rechten auf der Erde saß. Bei ihr saß Uchendu mit dem Ahnenstab der Familie. Die anderen Männer standen außerhalb des Kreises und sahen zu. Dasselbe taten ihre Frauen. Es war Abend, die Sonne ging unter.
Die Fragen stellte Uchendus älteste Tochter Njide.
»Bedenke: Wenn du nicht wahrhaftig antwortest, wirst du leiden oder sogar bei der Geburt eines deiner Kinder sterben«, hob sie an. »Mit wie vielen Männer hast du gelegen, seit mein Bruder den Wunsch geäußert hat, dich zur Frau zu nehmen?«
»Mit keinem«, antwortete die junge Frau schlicht.
»Antworte wahrhaftig«, mahnten die übrigen Frauen.
»Keinem einzigen?«, fragte Njide.
»Keinem einzigen«, antwortete sie.
»Schwöre beim Stab meiner Väter«, sagte Uchendu.
»Ich schwöre«, sagte die Braut.
Da nahm ihr Uchendu das Huhn ab, durchtrennte mit einem scharfen Messer die Kehle und ließ etwas Blut auf seinen Ahnenstab tropfen.
Von diesem Tag an nahm Amikwu die junge Braut zu sich in die Hütte, und sie wurde seine Frau. Die Töchter der Familie aber kehrten nicht gleich heim, sondern verbrachten zwei oder drei Tage bei ihren Verwandten.
Am zweiten dieser Tage rief Uchendu seine Söhne, seine Töchter und seinen Neffen Okonkwo zusammen. Die Männer brachten ihre Ziegenfellmatten mit und ließen sich auf der Erde nieder, die Frauen nahmen auf einer Sisalmatte Platz, die über einen Erdwall gebreitet war. Uchendu zog leicht an seinem grauen Bart und mahlte mit den Zähnen. Dann begann er ruhig und deutlich, in wohlgesetzten Worten zu sprechen:
»Ich habe vor allem Okonkwo etwas zu sagen«, hob er an. »Aber ich möchte, dass auch ihr es hört. Ich bin alt, und ihr seid Kinder. Ich weiß mehr über die Welt als ihr alle. Wenn es unter euch einen gibt, der glaubt, mehr zu wissen, möge er sprechen.« Er wartete, aber niemand sprach.
»Warum ist Okonkwo heute bei uns? Wir sind nicht sein Klan. Wir sind die Verwandten seiner Mutter. Er gehört hier nicht her. Er ist ein Verbannter, dazu verurteilt, sieben Jahre in diesem fremden Land zu leben. Und so beugt ihn der Kummer. Ich möchte ihm nur diese eine Frage stellen. Kannst du mir sagen, Okonkwo, warum einer der häufigsten Namen, die wir unseren Kindern geben, Nneka lautet, ›Mutter ist das Höchste‹? Wir alle wissen, dass der Mann der Familie vorsteht und seine Frauen ihm folgen. Ein Kind gehört dem Vater und seiner Familie, nicht der Mutter und ihrer Familie. Ein Mann gehört zu seinem Vaterland und nicht zu seinem Mutterland. Und doch sagen wir Nneka – ›Mutter ist das Höchste‹. Warum?«
Es herrschte Schweigen. »Ich möchte, dass Okonkwo mir antwortet«, sagte Uchendu.
»Ich kenne die Antwort nicht«, erwiderte Okonkwo.
»Du kennst die Antwort nicht? Du siehst also, du bist ein Kind. Du hast viele Frauen und viele Kinder – mehr als ich. Du bist ein großer Mann deines Klans. Und doch bist du ein Kind, mein Kind. Höre also, ich will es dir sagen. Doch zuvor stelle ich dir noch eine zweite Frage. Warum wird eine Frau bei ihrem
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